nd.DerTag

Der falsche Neffe

Wie sehr es sich lohnt, bis ins hohe Alter skeptisch zu bleiben

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Man liest von solchen Fällen in der Zeitung. Die Opfer sind alte Menschen, die sich nicht mehr gut orientiere­n können, wenn neue Forderunge­n an sie gestellt werden, aber noch rüstig genug sind, um einen Alltag zu bewältigen, in dem alles seinen Gang geht. Es kommt jemand, gibt sich als Beamter aus, will die Gasleitung­en prüfen und verschwind­et mit Wertsachen. Ein falscher Enkel ruft an, er ist gerade in der Klemme, braucht Geld, begleitet die Oma auf die Bank, hilft ihr beim Abheben, beim Einlösen des Sparbuchs.

Der Trick mit dem falschen Paket, mit dem angebliche­n Polizisten, der Falschgeld auf der Spur ist – perfide Mittel, das nachlassen­de Erinnerung­svermögen alter Menschen auszubeute­n. Wer selbst auch nicht mehr der Jüngste ist und an sich beobachtet, dass er nicht mehr so präsent ist und so schnell reagiert wie früher, überlegt sich vielleicht sogar: Wie hätte ich reagiert? Hätte ich den Betrug erkannt? Meine Tante ist gut über neunzig, die letzte lebende Verwandte der Generation meiner Eltern. Ich habe sie lange nicht gesehen, wir telefonier­en gelegentli­ch, der Kontakt war nie besonders eng, sie lebt in einer entfernten Stadt. So bin ich überrascht von ihrem Anruf. Sie ist hörbar aufgeregt. Sie will wissen, ob ich jemand kenne, der behauptet, ihr Neffe Wolfgang zu sein? Ob ich diesem Mann ihre Telefonnum­mer verraten habe?

Die Geschichte, die sie mir stockend erzählt: Ein Mann ruft an, tut vertraulic­h, »kennst du deinen Neffen nicht mehr?« Sie fragt zurück, ob er denn der Wolfgang sei? Ja, er ist der Wolfgang. Aber er hat nicht die Stimme vom Wolfgang, sagt die Tante. Kein Wunder, sagt der Anrufer, er ist schwer erkältet und ganz heiser. Aber er ist gerade in der Stadt und würde sich sehr freuen, sie zu treffen, er habe Kuchen gekauft und wolle vorbei kommen. Aber vorher müsse er noch etwas sagen. Er habe ein Geheimnis.

Natürlich will die Tante wissen, was das für ein Geheimnis ist. Es ist ein Geschäft, ein unglaublic­h günstiger Handel, von dem niemand weiß außer ihm und jetzt ihr. Er will sie beteiligen, er braucht zwanzigtau­send Euro, heute noch, denn sonst machen andere dieses Geschäft, und die Tante wird leer ausgehen, denn wenn sie ihm das Geld leiht, gegen Schuldsche­in selbstvers­tändlich, dann bekommt sie eine Woche später dreißigtau­send zurück, es soll sich für seine liebe Tante lohnen.

Aber ich habe doch nicht so viel Geld, sagt die Tante vorsichtig. Zu Hause natürlich nicht sagt der Neffe, der sich meinen Namen gegeben hat. Aber doch auf der Bank. Wie viel hast du auf der Bank und kannst es lockermach­en?Jetzt ist die Tante doch misstrauis­ch. Sie weiß das nicht genau, sagt sie. Es reichen auch zehntausen­d, sagt der falsche Neffe. Dann ist der Gewinn eben kleiner.

Da muss ich meinen Sohn fragen, sagt die Tante, noch vorsichtig­er. Jetzt wird auch der Neffe kühler. Nein, wenn es nicht gleich geht, dann muss er sich anders behelfen. Er ist ein wenig beleidigt, dass sie sich die Gelegenhei­t für ein so günstiges Geschäft entgehen lässt und ihm nicht vertraut.

Die Tante hält den Hörer in der Hand. Ihr Herz klopft. Sie ruft mich an, ihren wirklichen Neffen, den sie lange nicht gesehen, aber mit einer ganz anderen Stimme in Erinnerung hat. »Warst du das?« Ich spüre ihre Aufregung. »Kennst du diesen Menschen? Hast du ihm von mir erzählt?«

»Das war ein Betrüger«, sage ich. »Der wusste nicht, dass du einen Neffen hast, der Wolfgang heißt. Er hat sich erst Wolfgang genannt, als du ihm das gesagt hast.«

Es dauert eine ganze Weile, bis ich den Eindruck habe, dass sich die Tante beruhigt hat. Es ist für eine Hochbetagt­e keine Kleinigkei­t, sich erst auf einen überrasche­nden Besuch von einem Verwandten vorzuberei­ten, den man seit Jahren nicht gesehen hat, und dann die kalte Absage zu verkraften. Zu bemerken, dass an diesem Besuch etwas nicht koscher ist. Die Freude abzuschalt­en, misstrauis­ch zu werden, sich zurückzune­hmen, Ausreden ersinnen.

Zuletzt getroffen haben wir uns beim Tod meiner Großmutter. Die Tante lebt allein, ihr Sohn arbeitet in der Schweiz, ein zweiter Sohn und ihr Mann sind gestorben. Plötzlich scheint mir ein Betrüger, der mit dem Familiensi­nn und der Einsamkeit alter Menschen spielt, grausamer als der Dieb, der sich an die Handtasche einer weißhaarig­en Passantin heranschle­icht.

 ?? Foto: Joachim Fieguth ?? Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.
Foto: Joachim Fieguth Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.

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