Operettenputsch in Moskau
Wie 14 Verschworene vor 25 Jahren die UdSSR retten wollten.
Der zumeist hofierte und hochgelobte letzte KPdSUGeneralsekretär und letzte Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, hatte durch seine Politik einer gut gemeinten, aber konzeptionslos durchgeführten Perestroika den Vielvölkerstaat 1991 in den fast unabwendbaren Untergang geführt. Obwohl mit bisher nicht gekannten Vollmachten ausgestattet, war er außerstande bzw. nicht willens, den sozialökonomischen und sicherheitspolitischen Niedergang sowie den Zerfall der multiethnischen Großmacht aufzuhalten – entgegen dem Willen von 76 Prozent Sowjetbürgern, die im März 1991 in einem Referendum für den Erhalt der UdSSR gestimmt hatten. Gorbatschow entschied eigenmächtig, die noch bestehende UdSSR in eine »Union souveräner Staaten« umzuwandeln. Dieser neue »Unionsvertrag« sollte am 20. August 1991 vorerst mit einigen Teilrepubliken unterzeichnet werden.
Damit wäre das Land wider die damals noch bestehende Verfassung und die genannte Volksabstimmung in eigenständige Staaten aufgeteilt worden. Nahezu die gesamte sowjetische Partei- und Führungsspitze war nicht bereit, dieses Vorhaben mitzutragen. Prominente und mächtige Gegner waren u. a. der Parlamentsvorsitzende Anatolij Lukjanow, Vizepräsident Gennadij Janajew, Ministerpräsident Pawlow und seine Minister für Staatsicherheit (Wladimir Krjutschkow), Inneres (Boris Pugo) und Verteidigung (Marschall Dimitrij Jasow) sowie der Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte Walentin Warennikow, der ZK-Sekretär für Militärfragen Oleg Baklanow sowie der stellvertretende KPdSU-Generalsekretär Oleg Schenin.
Gorbatschow weilte im Urlaub auf der Krim, als jene sich zur Tat entschlossen und ihn am 18. August 1991 dazu drängten, den Staatsnotstand auszurufen sowie die Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages auszusetzen, damit dieser nach den Ferien erst einmal dem Parlament zur Debatte vorgelegt werden könne. Gorbatschow lehnte ab – und war entschlossen, seinen Urlaub ungestört fortzusetzen.
Am darauffolgenden Tag verkündete Vizepräsident Janajew im Namen eines von den genannten hochrangigen Partei- und Staatsfunktionären gegründeten Staatsnotstandskomitees den zeitweiligen Ausnahmezustand – zunächst nur für die sowjetische Hauptstadt. Es wurde mitgeteilt, dass Gorbatschow gesundheitlich außerstande sei, seine Amtsgeschäfte auszuüben. Darüber wurde nicht nur die Bevölkerung informiert. Außenminister Alexander Bessmertnych setzte die internationale Öffentlichkeit und speziell den UNO-Generalsekretär in Kenntnis. Begründet wurde der Coup als ein notwendiger Schritt, um den Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, den wirtschaftlichen Kollaps und das Auseinanderbrechen der Union abzuwehren.
Zur Durchsetzung der für Moskau am 19. August 1991 ab 21 Uhr geltenden Ausgangssperre rückten 76 gepanzerte Fahrzeuge zur Patrouille – und ohne Schießbefehl! – in das Stadtzentrum. Boris Jelzin, Präsident von Russland und somit Staatsoberhaupt der größten Unionsrepublik, war nicht am Erhalt der Sowjetunion interessiert. Er befand sich schon seit längerem im Machtkampf mit dem Präsidenten der UdSSR und sah nun seine Chance gekommen, über jenen zu triumphieren. Lautstark verurteilte er den Ausnahmezustand als »verbrecherischen Staatsumsturz« und behauptete fälschlich, die »Putschisten« wollten das sogenannte Weiße Haus, Domizil der Regierung und des Parlaments, vom Militär erstürmen und besetzen lassen. Jelzin rief die Moskauer zum Widerstand auf – ein Spiel mit dem Feuer. Er riskierte sehenden Auges einen Bürgerkrieg. Tatsächlich stießen die Patrouillenpanzer bald auf Barrikaden und einige Tausend wütende Demonstranten. Drei jugendliche Angreifer bewarfen einen Panzer mit Steinen und Brandflaschen und jagten sodann die aus dem brennenden Stahlross fliehende Mannschaft, woraufhin sie getötet wurden.
Jelzin, der keine Hoheit über die Armee hatte, gelang es, den Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte Jewgeni Schaposchnikow auf seine Seite zu ziehen. Dieser war sofort bereit, den Kreml zu bombardieren. Angesichts dessen und eines ernsthaft drohenden Bürgerkrieges entschied das Ausnahmekomitee am 21. August 1991, alle militärischen Verbände aus dem Moskauer Raum abzuziehen und eine Delegation zu Gorbatschow zu schicken. Jelzin kam den Abgesandten zuvor, »befreite« – wie es in der Folge offiziell hieß – seinen politischen Rivalen und ließ ihn nach Moskau bringen. Sodann beauftragte er den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation, Alexander Stepankow, alle »Putschisten« zu ver- haften und gegen sie einen Prozess wegen Landesverrats einzuleiten. Obwohl es zu keinem Gerichtsurteil kam, blieben die zwölf des Umsturzes bezichtigten Verhafteten weiter in Gewahrsam – bis zu ihrer Amnestierung durch die Staatsduma im Februar 1994. Pugo und Marschall Sergeij Achomejew wurden tot aufgefunden, als man sie verhaften wollte.
Die Ereignisse vor einem Vierteljahrhundert in Moskau, die gemeinhin als »kommunistischer Putsch« bezeichnet werden, sind von Historiker, Politologen, politischen Akteu-
Fast alle Putschisten kehrten in die Politik zurück.
ren und Zeitzeugen mehrfach und kontrovers geschildert worden, vor allem in den Arbeiten von W. Geworkow (»Moskauer Operette«, 1997) und lgnaz Lozo (»Der Putsch«, 2014) sowie in dem vom Ex-Marschall Dimitrij Jasow herausgegeben Band »Der Augustputsch. Das Staatskomitee zur Rettung der Sowjetunion«, erschienen 2013 in Moskau und jetzt auch in deutscher Übersetzung erhältlich (Edition Berolina, 235 S., geb., 14,99 €). In diesem Band erinnern sich acht der 14 »Putschisten«. Sie klagen Jelzin und Gorbatschow als die eigentlichen Umstürzler und Landesverräter an.
Ex-Vizepräsident Janajew führt hierfür deren Verantwortung für den Niedergang der Wirtschaft, des sow- jetischen Staats- und Rechtswesens sowie des sozialen Lebens an. In Anspielung auf den »Bilderberg Club«, informellen, privaten Treffen von einflussreichen Personen aus Wirtschaft, Politik, Militär, Geheimdiensten, Medien, Hochschulen, Hochadel und Kirchen, schließt er eine Außensteuerung nicht aus. Ex-KGB-Chef Krjutschkow, seit 1998 Berater des damaligen Chefs des russischen Geheimdienstes und heutigen Präsidenten Wladimir Putin, spricht offen von westlicher Einflussnahme, die wesentlichen Anteil an den seinerzeitigen Vorgängen gehabt hätte.
Als einen Grund dafür, warum er und seine Mitstreiter mit ihrem Versuch, die Sowjetunion zu retten, gescheitert sind, nennt Janajew den Seitenwechsel des Chefs der Luftlandetruppen; Pawel Gratschew habe sich als Diener zweier Herrn versucht: »Erst half er aktiv Jasow, und dann am 20. August lief er offen zu Jelzin über. Was wundert es da noch, das unser Neubeginn gescheitert ist.«
Zu den Motiven der Putschisten äußerte sich u. a. Tisjakow, einstiger Chef des sowjetischen Militärisch-Industriellen Komplexes, auf der international aufmerksam verfolgten Pressekonferenz vom 19. August 1991: Gorbatschows Perestroika habe die ihm unterstellten Betriebe an den Rand des Abgrundes getrieben, und ein Zerfall der UdSSR würde die Rüstungsproduktion immens gefährden. Daher habe er sich im Interesse der nationalen Sicherheit dem Notstandskomitee angeschlossen. Alexander Tisjakow sah sich in seiner Entscheidung bestätigt, als Jelzins Generalstaatsanwalt das Gerichts- verfahren wegen »Vaterlandsverrats« gegen ihn und seine Mitverschworenen im Dezember 1991 einstellte. Dessen ungeachtet blieben alle in Haft und wurden acht Monate später mit den anderen erneut angeklagt, nunmehr unter dem Vorwurf, dass sie die Macht an sich reißen wollten. Auch diese Anklage wurde fallengelassen. Sie sei »absurd«, da die Angeklagten vor dem Putsch »bereits Macht im Überfluss« besessen hätten.
Zum Staatsnotstandskomitee hatte sogar der Vorsitzende des sowjetischen Bauernverbundes, Sergej Starodubschew , gehört. Seine Erklärung für das Scheitern des Komitees: Im Fernsehen habe man »Schwanensee« übertragen, als es notwendig gewesen wäre, dem Volk zu erklären, was vor sich geht. Neben dem Verrat des Chefs der sowjetischen Luftlandetruppen macht er für den Sieg Jelzins ebenso die aktive Unterstützung der US-Botschaft in Moskau verantwortlich; sie hätte Jelzin umfangreiche finanzielle Mittel für seine Offensive zur Verfügung gestellt. Das Staatsnotstandskomitee habe zudem von einem entschiedeneren Vorgehen, etwa Schießbefehl, Abstand genommen, um Blutvergießen zu verhindern – im Unterschied zu Jelzin, der reichlich zwei Jahre später, nachdem er Gorbatschow absetzen ließ und die UdSSR auflöste, das russische Parlament im wahrsten Sinne des Wortes zusammenschießen ließ.
Ironie der Geschichte: Fast alle Mitglieder des Notstandskomitees sind nach dem Ende der Jelzin-Ära in die Politik zurückgekehrt und erhielten quasi als Rehabilitierung hohe staatliche Auszeichnungen.