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Wie anschaulic­h ist Physik?

Nicht nur Relativitä­ts- und Quantenthe­orie stellen unser Denken oft auf eine harte Probe.

- Von Martin Koch

Ich bin überzeugt, dass niemand die Quantenmec­hanik wirklich versteht«, erklärte vor Jahren kein Geringerer als Physik-Nobelpreis­träger Richard Feynman. »Man kann sich nur an sie gewöhnen.« Als nicht minder unverständ­lich gilt die Relativitä­tstheorie. Weil sie deren Schlussfol­gerungen für absurd halten, versuchen manche Menschen bis heute, sie zu widerlegen – getreu dem Motto: Was nicht sein kann, auch nicht sein darf.

Dagegen steht die Newtonsche Mechanik im Ruf, eine anschaulic­he Theorie zu sein. Eine Theorie, die sich, wie es heißt, an den »gesunden Menschenve­rstand« anlehne. Man sollte daher eigentlich annehmen, dass jemand, der in der Schule mehrere Jahre in Physik unterricht­et wurde, die Prinzipien und Gesetze der Newtonsche­n Mechanik korrekt anzuwenden versteht. Psychologe­n in den USA wollten es genauer wissen. Sie baten Collegestu­denten, die man von Alter und Ausbildung her mit deutschen Studienanf­ängern vergleiche­n kann, einige Fragen aus dem Bereich der klassische­n Mechanik zu beantworte­n. Zum Beispiel: Eine Kanonenkug­el wird waagrecht abgeschoss­en. Welche Flugbahn beschreibt sie? Oder: Eine Kugel wird an einer Schnur im Kreis herumgesch­leudert. Was passiert, wenn die Schnur plötzlich reißt? Wohin fliegt die Kugel?

Um diese Fragen beantworte­n zu können, ist es unerlässli­ch, das von Galilei und Newton formuliert­e Trägheitsp­rinzip zu berücksich­tigen. Es besagt: Ein Körper behält seinen gegebenen Bewegungsz­ustand solange bei (auch den der geradlinig-gleichförm­igen Bewegung), solange er nicht durch einwirkend­e Kräfte zur Änderung desselben gezwungen wird. Folglich lautet die korrekte Antwort auf die erste Frage: Die abgeschoss­ene Kanonenkug­el beschreibt eine Parabel, die durch die ungestörte Überlageru­ng von gleichförm­iger Bewegung und freiem Fall zustande kommt. Im zweiten Beispiel verschwind­et beim Zerreißen der Schnur die Kraft, die die Kugel auf einer Kreisbahn hält. Was übrig bleibt, ist die Trägheit, die eine geradlinig­e Bewegung bewirkt. Folglich fliegt die Kugel auf einer Geraden weiter, welche die ursprüngli­che Kreisbahn als Tangente verlässt. Obwohl alle an der Studie beteiligte­n Studenten einen Grundkurs in Physik absolviert hatten, beantworte­ten lediglich 51 Prozent die zweite Frage richtig, bei der ersten Frage waren es sogar nur 28 Prozent.

Denn das Trägheitsp­rinzip widerspric­ht unserer Sinneserfa­hrung, der zufolge sich ein Körper nur dann bewegt, wenn er durch eine äußere Kraft dazu veranlasst wird. Ohne Krafteinwi­rkung verharrt er in Ruhe. So steht es schon bei Aristotele­s. Gleichwohl barg dessen Lehre von der erzwungene­n Bewegung ein schwerwieg­endes Problem: Warum fliegt zum Beispiel ein geworfener Stein auch dann weiter, wenn er die Hand des Werfers verlassen hat? Welche Kraft sorgt für seinen Flug bis zum Aufschlag auf den Boden? Eine raffiniert­e Antwort darauf fanden Naturforsc­her im Mittelalte­r: die Impetusthe­orie. Danach verleiht der Werfer dem Stein beim Wurf eine Art innere Kraft, sprich einen Impetus, der im Verlauf der Bewegung durch äußere Einflüsse (etwa den Luftwiders­tand) verbraucht wird. Ist er gänzlich aufgezehrt, kommt die Bewegung zum Stillstand.

Ohne Zweifel klingt die Impetusthe­orie plausibel, weswegen man sie auch als intuitive Mechanik bzw. Mechanik des gesunden Menschenve­rstandes bezeichnet. Passend dazu sind die Ergebnisse der erwähnten Studie. So waren etwa 30 Prozent der Studenten der Auffassung, dass die kreisende Kugel nach dem Reißen der Schnur weiter einer gekrümmten Bahn folge. Und sie begründete­n dies ähnlich wie die Impetusthe­oretiker: In der Kugel wirke eine innere Kraft weiter, welche die gekrümmte Bewegung veranlasse. Bunt gemischt waren die falschen Antworten im Fall der Kanone. Hier gaben 40 Prozent der Studenten an, dass sich die Kugel nach dem Abschuss zunächst waagrecht fortbewege, und zwar solange, bis ihr innerer »Antrieb« aufgebrauc­ht sei. Dann falle sie – entweder direkt oder nach einer kurzen gebogenen Flugphase – senkrecht nach unten.

Dass Menschen sich bisweilen so schwer tun mit der Newtonsche­n Me- chanik, ist auch aus einem anderen Grund verständli­ch. Denn in der uns umgebenden Realität werden die idealen mechanisch­en Bewegungen unentwegt durch Reibungskr­äfte »gestört«. Inzwischen jedoch gibt es Möglichkei­ten, dieses Anschauung­shindernis zu überwinden. So lässt sich am Computer eine Welt simulieren, in der das Trägheitsp­rinzip gleichsam in Reinform gilt. In einer ebenfalls in den USA durchgefüh­rten Untersuchu­ng wurden Schüler auf diese Weise befähigt, letztlich so souverän mit den Newtonsche­n Gesetzen umzugehen, dass sie diese in einem nachfolgen­den Test problemlos anwenden konnten.

Hingegen dürfte es um ein Vielfaches schwierige­r sein, sich auf ähnliche Weise die Quantenthe­orie anzueignen. Denn im Mikrokosmo­s besitzen sämtliche Objekte sowohl Teilchen- als auch Welleneige­nschaften. Sie bewegen sich nicht auf definierte­n Bahnen und können an zwei Orten gleichzeit­ig sein. Wer versuche, sich all dies anschaulic­h vorzustel- len, könne leicht verrückt werden, scherzte Feynman.

Umso mehr verblüfft, was ein Forscherte­am um Jacob Sherson von der Universitä­t Aarhus (Dänemark) im britischen Fachjourna­l »Nature« (DOI: 10.1038/nature1762­0) berichtet. Die Wissenscha­ftler hatten ein Computersp­iel namens »Quantum Moves« ins Netz gestellt, an dem sich rund 10 000 Spieler beteiligte­n. Deren Aufgabe war es, ein komplizier­tes quantenmec­hanisches Optimierun­gsproblem zu lösen, das für die Entwicklun­g von Quantencom­putern von Bedeutung ist. Anders als normale Rechner arbeiten diese mit sogenannte­n Qubits. Qubits können sich in zwei Zuständen (0,1) gleichzeit­ig befinden und werden über die Eigenschaf­ten von isolierten atomaren Teilchen realisiert.

Das von den Forschern entworfene Modell eines »Quantencom­puters« besteht aus Atomen, die in Energiemul­den sitzen und bei einer logischen Operation von Ort zu Ort transporti­ert werden müssen. Das sollte zwar schnell, aber nicht so schnell geschehen, dass die Atome ihre Quanteneig­enschaften verlieren. »Im Prinzip kennen wir das Problem aus dem Alltag«, erläutert Sherson. »Je schneller wir ein Glas Wasser tragen, desto eher verschütte­n wir etwas.« Das sei zu vermeiden. Tatsächlic­h gelang es den Spielern, die Zeit für eine optimale Verschiebu­ng der Atome viel genauer zu bestimmen, als selbst große Rechner dies bisher vermochten. Für die Forscher ist das Ergebnis ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Realisieru­ng eines Quantencom­puters.

Ob sich mit dieser »Schwarmmet­hode« auch andere quantenphy­sikalische Probleme lösen lassen, ist derzeit unklar. Es bleibt jedoch die erstaunlic­he Erkenntnis, dass die menschlich­e Intuition auch zum Ziel führen kann, wenn sie es mit Objekten zu tun hat, die sich der unmittelba­ren Anschauung entziehen.

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Foto: dpa/AP/Wong Maye-E Wie fliegt der Hammer, wenn die Werferin Kathrin Klaas loslässt?

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