Jesses Schuh und Christas Doppel
Das Olympische Museum in Lausanne bietet einen Marathon der Emotionen. Von Heidi Diehl
Helden kommen oftmals ganz unspektakulär daher. Wie die aus ihrer Heimat Syrien geflüchtete Yusra Mardini, die vor einem Jahr gemeinsam mit ihrer Schwester das kenternde Boot, das sie nach Europa bringen sollte, schwimmend nach dreieinhalb Stunden an das sichere Ufer von Lesbos brachte und so vielen das Leben rettete. Nun startet die 18-Jährige, die inzwischen in Deutschland lebt, als Schwimmerin des Flüchtlingsteams bei den Olympischen Spielen in Rio. Bis heute versteht sie den Medienrummel um sie nicht, denn: »Schwimmen ist mein Leben.«
In Yusras Fall stimmt das im doppelten Sinne, und möglicherweise wird die Geschichte der »Heldin wider Willen« eines Tages auch die Besucher des Olympischen Museums in der »Olympischen Hauptstadt« Lausanne, dem Sitz des IOC, in ihren Bann ziehen. Wie die von Jesse Owens und Luz Long, die vor exakt 80 Jahren bei den Olympischen Spielen in Berlin begann. Beim Duell des schwarzen US-Amerikaners und des deutschen Vorzeigeathleten setzten die Nazis allergrößte Hoffnungen auf den Weitspringer Long, um die Überlegenheit der arischen Rasse zu beweisen. Doch nach einem spannenden Kampf siegte Owens vor den Augen Hitlers, der daraufhin wütend das Stadion verließ. Luz Long hingegen gratulierte als Erster seinem Konkurrenten und schloss ihn fest in die Arme.
Es war der Beginn einer lebenslangen – aber viel zu kurzen – Freundschaft. Beide schickten sich Briefe, in seinem letzten, 1943, kurz bevor Long in Sizilien an den Folgen einer Kriegsverletzung starb, schrieb er an seinen Freund Jesse: »Fahre nach dem Krieg nach Deutschland, finde meinen Sohn und erzähle ihm von seinem Vater. Erzähle ihm von der Zeit, als der Krieg uns nicht trennte, und sag ihm, dass die Dinge anders sein können zwischen den Menschen. Dein Bruder Luz.«
Owens erfüllte das Vermächtnis seines Freundes, besuchte nach dem Krieg Longs Sohn Kai in Deutschland und sagte: »Ihr könnt alle meine Medaillen einschmelzen und alle Pokale, die ich gewonnen habe. Sie sind nicht viel wert im Vergleich mit der 24-karätigen Freundschaft, die ich für Luz Long empfunden habe.«
Im Lausanner Museum kann man nicht nur die Geschichte von Owens und Long hören, sondern auch die Spikes sehen, mit denen der Amerikaner 1936 in Berlin insgesamt vier Goldmedaillen in der Leichtathletik gewann und Nazideutschland brüskierte.
Diese besondere Episode ist nur eine von vielen, die man erfährt, wenn man sich in dem Museum auf einen Marathon der Emotionen begibt. Bewegende Momente aus der Geschichte der Olympischen Spiele gibt es hier viele, wie
zum Beispiel auch die von Christa Luding-Rothenburger, die als einzige Sportlerin der Welt im gleichen Jahr sowohl bei Olympischen Sommer- als auch Winterspielen Medaillen erkämpfte. Dass der Triumph der DDR-Sportlerin aus dem Jahr 1988 bei vielen noch gegenwärtig ist, zeigte sich auch beim diesjährigen GutsMuths Rennsteiglauf, bei dem die sympathische Sportlerin als Ehrenkapitänin des nd-Teams vielen Rede und Antwort stand.
Man sollte für das 1993 am Genfer See eröffnete Museum schon ein bisschen Zeit mitbringen, denn ob man will oder nicht, es fesselt irgendwann selbst den größten Sportsmuffel. Auf drei Ausstellungsebenen erfährt man vieles von den Ursprüngen der Olympiade bis hin zur Gegenwart. Durch- gängig interaktiv lädt es zum Mitmachen ein und vermittelt so manchen Aha-Effekt. Dass die fünf Olympischen Ringe die fünf Kontinente symbolisieren sollen, gilt ja als allgemein bekannt. Aber wussten Sie, dass sich in deren Farben (plus dem Weiß des Hintergrunds) die Farben der Flaggen ausnahmslos aller Nationen wiederfinden? Wer es nicht glauben will, kann sich bei einem Computerspiel eines Besseren belehren lassen.
Und wussten Sie, dass die ersten Olympischen Spiele, die zu Ehren Gottvaters Zeus gegründet wurden, 776 v. Chr. stattgefunden haben und ursprünglich aus nur einem Stadionlauf bestanden? Oder dass im vierten Jahrhundert n. Chr. unter Kaiser Theodosius I. die als heidnisch geltenden Spiele verboten wurden?
Erst der französische Historiker und Pädagoge Baron Pierre de Coubertin holte sie Ende des 18. Jahrhunderts aus der Vergessenheit. Regelrecht besessen war er von der Vision, durch den Sport Menschen zusammenzubringen und somit zum Frieden auf der Welt und zu internationaler Verständigung beizutragen. Lange wurde er dafür belächelt und traf auf viel Unverständnis, doch Coubertin kämpfte für seinen Traum. 1894 wurde endlich das Internationale Olympische Komitee (IOC) gegründet, zwei Jahre später fanden die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen statt.
Alles, was seitdem zum bedeutendsten Sportwettkampf der Welt gehört, findet sich in den Ausstellungsräumen wieder: die komplette Sammlung der Fackeln seit sie 1936 in Berlin eingeführt wurden, der Weg des Olympischen Feuers von Olympia bis zum jeweiligen Austragungsort, die vielfältigen Herausforderungen der Gastgeberstädte, die Eröffnungszeremonien, das Olympische Dorf, Bekleidung, Medaillen ... Dank modernster Technik kann man sich gewissermaßen durch die Zeiten »beamen«, mit Athleten aus aller Welt »ins Gespräch kommen« sowie an ver- schiedenen Mitmachstationen selbst mal in die Rolle eines Olympioniken schlüpfen. Und sicher werden dabei viele persönliche Erinnerungen wach. Beispielsweise wenn man vor dem Kostüm steht, in dem Katharina Witt 1988 in Calgary als Carmen Geschichte schrieb und Debi Thomas aus den USA, die ebenfalls als Carmen lief, auf das Bronzetreppchen verwies. Die ganze DDR fieberte und jubelte an diesem Tag mit »ihrer« Carmen.
Frieden auf der Welt befördern war eines der Ziele, die Coubertin mit den Olympischen Spielen der Neuzeit verfolgte. Die Tradition des Olympischen Friedens geht übrigens auf das antike Griechenland im 9. Jahrhundert v. Chr. zurück. Damals wurde das »Ekecheiria«, ein Abkommen zur Gewährleistung des sicheren Ablaufs der Olympischen Spiele, schriftlich verankert, das allen Athleten, Künstlern, Familien und einfachen Reisenden zusicherte, in Sicherheit anzureisen, die Wettkämpfe mitzuerleben und wieder abzureisen.
Um den Gedanken zu erneuern, wurde im Jahre 2000 vom IOC die Stiftung für den Olympischen Frieden gegründet. Darin wird unter anderem die weltweite Einstellung aller Feindseligkeiten vom siebenten Tag vor der Eröffnung der Spiele bis siebenten Tage nach der Beendigung gefordert.
Eine Forderung, die leider noch nie eingehalten wurde. Immer wieder wurde der Olympische Frieden gebrochen, und der Terror zog, wie 1972 in München, sogar im Olympischen Dorf selbst seine blutige Spur. Auch daran erinnert eine Dokumentation im Museum.
Eindrücklich verdeutlicht in der Ausstellung ein Teil der Friedensmauer aus dem Olympischen Dorf 2012 in London, dass Frieden eine der Grundlagen der olympischen Idee war und bleibt. Hunderte Unterschriften von Sportlern und Offiziellen aus aller Welt sind darauf zu sehen. Wer will, kann sich selbst auf einer virtuellen Friedensmauer verewigen und sich somit in die Schar jener einreihen, die der Tradition der Unterschriften auf der Friedensmauer, die es seit den Olympischen Spielen 2004 in Athen gibt, folgten.
Ganz sicher wird in Rio auch Yusra Mardini ihren Namen darauf setzen. Die, gefragt, warum sie in Rio an den Start gehe, antwortete: »Um ein Zeichen für den Frieden zu setzen. Im Wasser, da gibt es keine Unterschiede. Es zählt nicht, ob du Flüchtling bist, Syrer oder Deutscher. Es gibt nur das Wasser, dich und deine Konkurrenten.«
»Um einander zu achten, muss man sich zunächst kennen.« Pierre de Coubertin