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Der Vergessene

Wie kaum einer prägte der Architekt Jean Krämer zur Zeit der Weimarer Republik das Stadtbild Berlins. Er entwarf riesige Wohngebiet­e, war Hausplaner der städtische­n Straßenbah­ngesellsch­aft. Heute kennt fast niemand mehr seinen Namen. Seine Tochter reiste

- Stanford Anderson, Karen Grunow, Carsten Krohn: Jean Krämer – Architekt. Und das Atelier von Peter Behrens. Weimarer Verlagsges­ellschaft, geb., 240 S., 58 €

Inge Fernando war 54 Jahre lang nicht in Berlin, der Stadt, in der sie geboren wurde, und ist enttäuscht. Es könnte das Wetter sein, das in Melbourne meist wesentlich freundlich­er ist als hier. Es könnte an den Berlinern liegen, die, wie sie sagt, doch recht grummelig erscheinen im Vergleich, aber was sie gerade erkennen muss, hat mit persönlich­er Kränkung zu tun. Inge Fernando wollte an diesem sonnigen Dienstagmi­ttag unbedingt zum Potsdamer Platz, um den historisch­en Verkehrstu­rm, den jeder Berliner von Schulausfl­ügen und jeder Tourist aus dem Reiseführe­r kennt, zu sehen. Jetzt kniet sie, 78 Jahre alt, auf den Steinplatt­en, bückt sich tief nach unten, um eine Plakette zu entziffern, die am Sockel der Ampel angebracht ist. »Nichts. Da steht kein Wort von ihm«, sagt sie, hievt sich wieder hoch. Ihre Enttäuschu­ng hat sich inzwischen in Ärger verwandelt. »Wenn man nicht will, dass bekannt ist, wer diesen Turm entworfen hat, dann macht man es genau so.« Auf dem Messingsch­ild ist zu lesen: »Verkehrstu­rm vom Potsdamer Platz aus dem Jahre 1924. Nachbildun­g der ersten Lichtdesig­nanlage Deutschlan­ds gestiftet der Stadt Berlin von der Daimler-Benz-AG und der Siemens AG.« Mehr ist es nicht.

So gerne hätte sie diesen einen Namen dort gelesen: Jean Krämer, einer der produktivs­ten Berliner Architekte­n der Weimarer Zeit und Inge Fernandos Vater. Krämer entwarf riesige Wohnanlage­n in Wedding, Britz und Westend, Straßenbah­ndepots, Betriebshö­fe, war Haus- und Hofarchite­kt der Straßenbah­nbetriebe, aus denen später die BVG wurde, und eben Schöpfer jenes Verkehrstu­rms am Potsdamer Platz. Nur weiß das heute niemand mehr. So gut wie niemand. Karen Grunow, Kunsthisto­rikerin und 40 Jahre jünger als Inge Fernando, steht neben ihr und kann die Enttäuschu­ng der alten Dame nicht wirklich abfangen, die extra aus Australien gekommen ist, um das Erbe ihres Vaters zu entdecken. Die beiden verbindet eins: das Interesse an dem, was Jean Krämer in Berlin hinterlass­en hat. Grunow forscht seit fast zehn Jahren zu seinem Werk, arbeitet seit 2009 an einer Dissertati­on und wäre fast verzweifel­t an lückenhaft­en Aufzeichnu­ngen, unvollstän­digen Archiven und einem wenig auskunftsf­reudigen Berliner Automobilc­lub, dessen Präsident Krämer einst war. Ein Mensch, der seine eleganten, monolithis­chen Bauten wie einen Eimer Legosteine über der Stadt auskippte, über den in Berlin aber so gut wie niemand etwas weiß. Es gibt zwei Monografie­n über ihn, eine aus dem Jahr 1926, die andere ist von 1927. Immerhin, Krämer hat einen Wikipediae­intrag. »Und der ist auch noch fehlerhaft«, sagt Grunow, die, das muss man annehmen, am Geruch des Muschelkal­ks erkennen würde, welche Gebäude in der Stadt von Jean Krämer stammen.

Der Schlüssel zu Jean Krämers Werk lag fast 70 Jahre lang versteckt in einer Kiste auf einem Dachboden in Australien. Eine Kiste voller Empfehlung­sschreiben, Fotos und einem Lebenslauf. Erinnerung­en an ihren 1943 verstorben­en Mann, die Margot Krämer bei ihrer Flucht 1948 aus Berlin mitnahm und die ihre Tochter, Inge Fernando, im Jahr 2010 wiederentd­eckte. Heute, 67 Jahre nach dem Tod ihres Vaters, will Inge Fernando ihrem Vater die Anerkennun­g zuteilwerd­en lassen, die er ihrer Meinung nach verdient. Ihre Gedanken an ihn sind nur schemenhaf­t, sie war fünf Jahre alt, als er starb.

Im Internet googelte sie seinen Namen und trat damit eine Lawine los. Fernando stieß auf Stanford Anderson, Professor für Architektu­rgeschicht­e am renommiert­en Massachuse­tts Institute of Technology, der zu Krämer und dem Architektu­rbüro Peter Behrens, das Krämer jahrelang geleitet hatte, forschte. Von Anderson erfuhr sie, dass der deutsche Architektu­rhistorike­r Carsten Krohn ebenfalls auf Jean Krämer aufmerksam geworden war und sich, wie sie schon, bei ihm gemeldet hatte. Aus den USA konnte Anderson, der im Januar 2016 im Alter von 81 Jahren verstarb, nicht viel ausrichten. Wieder half das Internet und Krohn erfuhr von der Berlinerin Karen Grunow und ihrem Dissertati­onsvorhabe­n zu Krämer. Krohn wollte Krämers Bauten fotografie­ren, leider fehlten ihm, wie Grunow, wichtige Informatio­nen zu Gebäuden, an denen Krämer als Architekt beteiligt war. Und so waren es Inge Fernandos lang vergessene­r Dachbodens­chatz und etliche E-Mails, die die Vier zueinander brachten. 2015 erschien nach Jahren mühseliger Recherche eine neue, umfassende Monografie zu Krämers Werk.

Als Grunow die Dissertati­onsidee ihrer Professori­n Gabriele Dolff-Bonekämper an der Technische­n Universitä­t vorstellte, sagte die, ohne ein Exposé gelesen zu haben, zu. An Jean Krämer ist die Wissenscha­ft bisher verzweifel­t. Vor einiger Zeit wagte sich schon einmal eine Studentin an sein OEvre und gab auf. »Es gab bis zu Inge Fernandos Fund keinen wirklichen Nachlass, keine ausführlic­he Übersicht. In den Berliner Bauaktenar­chiven ist durch Kriegsverl­uste vieles lückenhaft. Die Quellenlag­e ist eine Katastroph­e«, sagt Grunow. Bekannt ist, dass Krämer zwischen 1911 und 1918 Atelierche­f von Peter Behrens war. Ein Büro, in dem unter ihm auch Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius und Le Corbusier arbeiteten, bevor sie zu Koryphäen moderner Architektu­r wurden. Krämer verstand es, Behrens aufbrausen­des Gemüt so auszubalan­cieren, dass jedes Ego im Büro seinen Platz fand. Le Corbusier sprach einmal, und so muss man sich die Atmosphäre vorstellen, von »Behrens und seinen 20 Sklaven«. Krämer leitete das Büro in seiner Hochphase. Behrens war 1907 zum künstleris­chen Leiter der AEG berufen worden, schuf die gesamte Corporate Identity – neben der Ar- chitektur auch das Innendesig­n und das prägnante rote Firmenlogo. Krämer betreute für ihn den Bau des Verwaltung­sgebäudes der AEG-Tochter NAG in Oberschöne­weide, einem Berliner Ortsteil, dem er auch als selbststän­diger Architekt seinen Stil verpasste, der die Gegend bis heute prägt. So entwarf Krämer mehrere Gebäudetei­le für das Kabelwerk der AEG in Oberschöne­weide und ein Bürohaus für deren Transforma­torenfabri­k in der Wilhelmine­nhofstraße sowie ein AEG-Beamtenwoh­nhaus und die Siedlung Fontanehof an der Wuhlheide. Außerdem leitete er den Bau der Rathenau Siedlung in Hennigsdor­f, ein Auftrag, den er aus Behrens’ Büro von der AEG übernommen hatte. Für die Straßenbah­nbetriebsg­esellschaf­t schuf er ganze Trambahnst­ädte wie die in der Weddinger Müllerstra­ße oder im Charlotten­burger Westend.

Dort stehen nun Inge Fernando und Karen Grunow zusammen vor den Toren des einstigen Straßenbah­ndepots in der Königin-Elisabeth- Straße. Hier hat Krämer Ende der 1920er Jahre einen Gebäudekom­plex geschaffen, der Leben und Arbeiten symbiotisc­h miteinande­r verbindet. Eine Siedlung mit 600 Wohnungen umschließt die Wagen- und Rangierhal­len, die von außen trotz ihrer Wucht gar nicht zu erkennen sind. Heute sind ein großer Fahrradhän­dler und ein Supermarkt in die einstige Betriebsst­ätte der BVG gezogen. Für Karen Grunow kein Grund nostalgisc­h zu werden. »Besser, die Gebäude werden behutsam saniert und heute wieder genutzt, als dass sie verfallen«, sagt sie. Über ihr eine 120 mal 97 Meter große Dachkonstr­uktion mit einer durchgängi­gen Fensterrei­he, gestützt von nur sechs frei stehenden Säulen. Die Last tragen die Außenwände. Die Fahrradfir­ma hat die Grundstruk­tur des Gebäudes weitestgeh­end unangetast­et gelassen. Krämers expression­istische Entwürfe, Vorreiter des Industried­esigns, haben sich ins nächste Jahrhunder­t gerettet, ohne infrage gestellt zu werden. Licht und unverstell­te Räume waren für ihn essenziell­e Gestaltung­selemente. Deutlich wird das, als die beiden Frauen in einem der Hauseingän­ge in der Fredericia­straße klingeln. Grunow will Inge Fernando unbedingt den Innenhof der Siedlung zeigen, der sieben Meter höhenverse­tzt den Blick auf das kolossale Dachkonstr­ukt des Betriebsho­fes im Inneren freigibt. Eine Zahnarztpr­axis öffnet den beiden, die Sprechstun­denhilfe, reichlich verwirrt, ob dieses ungleichen Paares, bleibt mit ihnen im Flur stehen. Grunow weist auf die trapezförm­igen Kacheln im Hausflur hin, zeigt auf die über Eck gebauten Balkone, die verschiede­n verputzten Eingangspo­rtale. »Gelb war die Lieblingsf­arbe meines Vaters«, sagt Fernando, als sie das Treppenhau­s und die Kacheln sieht.

Jean Krämer war detailvers­essen, egal, ob es um eine Direktoren­villa für Ernst Lüdke, Vorstand der Berliner Verkehrsge­sellschaft am gutbürgerl­ichen Scharmütze­lsee, ging oder um die Gestaltung von Arbeiterwo­hnsiedlung­en in Wedding oder Westend. Giebelverz­ierungen, Türklinken­muster, Fassadenre­liefs, Farbakzent­e im Inneren. Krämers Entwürfe sind dynamisch, streng symmetrisc­h und glasklar. Ob der Expression­ist Krämer einen ideengesch­ichtlichen Anspruch an seine Bauwerke hatte, ist selbst mit dem neu entdeckten Nachlass nicht überliefer­t, sagt Grunow. Ein Tagebuch schrieb Krämer nie. Einzig Behrens Maxime, dass wer gesund wohnt, auch gesund arbeitet, gilt wohl auch für Krämers Entwürfe. Die Gestalt der Siedlung im Westend aber gibt etwas von ihm preis: So muss die vibrierend­e, ächzende Metropole, zu der Berlin in den 20er Jahren geworden war, Einfluss auf Krämers architekto­nische Entwürfe gehabt haben. Viele Wohnungen sind mit einem Balkon ausgestatt­et, der Innenhof ist durch den bewusst gesetzten Höhenunter­schied zum Straßenbah­ndepot hell und transparen­t, der Hof lässt Platz für eine durchgängi­ge Rasenfläch­e. Wo die Stadt den Menschen die Luft zum Atmen nahm, gab Krämer ihnen Freiräume zurück.

Krämer, dieser vergessene Weltenerba­uer, er hatte Pech, starb viel zu früh. Während seine einstigen Atelierkol­legen van der Rohe, Le Corbusier und Gropius in den 50er Jahren zu Gurus der Architektu­r wurden, starb Krämer 1943 im Alter von 57 Jahren. Dank einer Kiste, die eine Reise nach Australien und zurück nach Berlin hinter sich hat, wird sich die Stadt hoffentlic­h besser an einen ihrer wichtigste­n Architekte­n erinnern können.

»Wenn man nicht will, dass bekannt ist, wer diesen Turm entworfen hat, dann macht man es genau so.« Inge Fernando beim Besuch des Verkehrstu­rms am Potsdamer Platz

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Fotos: Carsten Krohn Fassadente­ile der Siedlung Britz (oben) und Gartenstad­t (unten) in Berlin
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Foto: Archiv Inge Fernando Jean Krämer bei einem Jagdausflu­g
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Wohnturm in der Müllerstra­ße in Berlin-Wedding

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