Letzter Aufenthalt
Der Schriftsteller Hermann Kant starb im Alter von 90 Jahren
Berlin. Der Schriftsteller Hermann Kant ist tot. Er starb am Sonntagmorgen im Alter von 90 Jahren im Krankenhaus Neustrelitz, wie »neues deutschland« aus Kants privatem Umfeld erfuhr. Kant, der seit Mitte der 90er Jahre zurückgezogen auf dem Land in Nordbrandenburg lebte, war einer der erfolgreichsten Autoren der DDR. Populär wurde er mit seinem ersten Roman »Die Aula«; zu seinen großen Erfolgen gehören auch »Das Impressum« und »Der Aufenthalt«. Darin und in seinen Erzählungen setzte er sich oftmals ironisch mit Konflikten und Widersprüchen beim Aufbau der Sozialismus in der DDR auseinander. In vielen seiner Werke verarbeitete er Autobiogra- fisches, etwa in dem antifaschistischen Roman »Der Aufenthalt« über die Erlebnisse eines jungen Wehrmachtsoldaten in polnischer Kriegsgefangenschaft.
Kant hatte namhafte Feinde: Autoren, die sich von ihm als langjährigen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbands gegängelt fühlten. Westdeutsche Kritiker, die in ihm kaum mehr als einen angepassten Staatskünstler sahen. Leute, die ihm Kontakte zur Staatssicherheit vorwarfen. Und er hatte sehr, sehr viel Freunde: eine in die Millionen gehende Leserschaft vor allem, aber nicht nur in der DDR. Nicht wenige blieben ihm auch nach dem Zusammenbruch der DDR treu und be- gleiteten seine umfangreiche literarische Auseinandersetzung mit dem Leben, auch mit seinem Leben im ostdeutschen Staat und dessen Scheitern. Hermann Kants letzte Veröffentlichung, die Erzählung »Ein strenges Spiel«, erschien 2015.
Zu den Kritikern, die sich um ein differenziertes Kant-Bild bemühten, gehörte der Feuilletonist Marcel Reich-Ranicki, der einmal über Kant schrieb: »Dieser Schriftsteller war und ist ein harter und intelligenter Gegner unserer westlichen Welt. Zur Herzlichkeit haben wir wahrlich wenig Grund. Aber doch zu einer knappen, respektvollen Verneigung.«
Wenigstens gab es noch diese Freude: den 90. Geburtstag zusammen mit begeisterten Leserinnen und Lesern zu feiern. Voll besetzt war das Landestheater Neustrelitz am Abend des 14. Juni 2016. Nicht einmal alle Interessierten hatten Platz gefunden. Gewürdigt wurde Hermann Kant als großer deutscher Schriftsteller. Und als die Festreden gehalten waren, saß er noch über eine Stunde am Büchertisch im Foyer, um zu signieren. »Die Leute dachten wohl, das sei nun die letzte Gelegenheit, mich noch mal lebendig zu erleben«, sagte er am nächsten Tag in seiner selbstironischen Art. – Für die meisten ist es tatsächlich so gewesen. Die Ärzte und Schwestern aus dem Krankenhaus Neustrelitz, die an diesem Abend auch im Theater waren, haben ihn freilich noch einmal gesehen, ihn so lange sie konnten am Leben gehalten, nachdem er in der Nacht zum 2. August gestürzt war. Schulter- und Beckenbruch. Die Operation war erfolgreich, aber.....
Wenn ein Schriftsteller stirbt, rühmt man sein Werk, das, was von ihm bleiben möge. Es ist ja des Schriftstellers große Hoffnung: dass etwas bleibt. Aber über all das hinaus ist er doch ein Mensch gewesen, der leben wollte und nun unter die Erde kommt, der auf keine Fragen mehr wird antworten können, einer, der vermisst wird. Der lebendige Mensch und das Bild, das andere sich von ihm machen, sind zweierlei.
Als ich Mitte der 80er Jahre neu in den Schriftstellerverband kam, bewunderte ich Hermann Kants überlegene Art, habe sie aber auch mitunter als zurückweisend empfunden. Heute weiß ich, dass es eine Schutzschicht war gegen »die da oben«, aber auch gegen die Querelen und Eifersüchteleien unter Kollegen. Heute weiß ich: Wem er vertraute, dem würde er zur Seite stehen. Verlässlich, gewissenhaft, gütig, mit erstaunlicher Einfühlung begabt, eigene Befindlichkeiten zurückstellend. Selbstdisziplin, Haltung unter Verhältnissen, denen ich nicht unterworfen war, antrainiert, sich abverlangt und mit dem Altern immer wieder neu durchdacht. Unerschütterlichkeit? Der Mann war ein Grübler, ein Zweifler, scharfsinnig wie wenige, mit Witz und Selbstironie begabt. Einer, der sich immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Verzweiflung gezogen hat. Ein starker Mensch, der austeilte und einsteckte, der sich seiner selbst bewusst war.
Alles habe mit einem Schemel begonnen, sagte er später, mit einem Schemel, wie ihn die Kriegsgefangenen mit sich herumtrugen. Er sei eines Tages darauf gestiegen und habe etwas von sich gegeben, was den anderen nicht gefallen konnte: dass er es wohl mit ihnen aufnehmen würde, was den Wunsch nach Heimreise betraf, dass aber doch wohl noch »für die Hinfahrt« bezahlt werden müsse. Denn wer hat das denn alles hier angerichtet – das Lager befand sich auf dem Gelände des einstigen Warschauer Ghettos...
Später hat Hermann Kant in seinem Roman »Der Aufenthalt« (1977) darüber geschrieben. Von einem Mark Niebuhr wird darin erzählt, in dem eine polnische Frau den Mörder ihrer Tochter zu erkennen glaubte und der deshalb als ein solcher eingesperrt wurde – zusammen mit wirklichen Kriegsverbrechern. Dabei war dieser Junge – wie sein Autor – gerade mal sechs Wochen im Krieg gewesen und aufgegriffen worden, als er mit einer Gruppe Soldaten versucht hatte, vor der anrückenden Sowjetarmee gen Westen zurückzuweichen. Ein Getriebener, der im Laufe des Romans zum Bewusstsein von Verantwortung kommt. Mehr noch: der bereit wird zur Sühne.
»Der Aufenthalt«: Kants wichtigstes Werk, auch wenn »Die Aula« vielleicht das populärere war. Aus dem Kriegsgefangenenlager an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät – und dort gleich in die Parteileitung. Nach der Gründung des Antifa-Komitees im Lager war er ein »Kader«. So viele wie ihn gab es nicht, die jung und aus dem Arbeitermilieu stammend schon politische Erfahrung vorweisen konnten. Dass es damit schon etwas Vor- gezeichnetes gab in seinem Lebensweg, er überschaute es noch nicht. Studieren – das allein war schon Verheißung für den Jungen, der wegen der Armut seiner Eltern nicht mal das Gymnasium besuchen konnte. Elektriker war er und wäre es geblieben, hätte es nicht die DDR gegeben.
Sein Roman »Die Aula« lebt von dieser frühen Aufbruchstimmung, die 1965, als er veröffentlicht wurde, so schon nicht mehr vorhanden war. Der Text war lächelnd-ironische Rückschau und Gegenwelt zugleich. Ein Märchen und doch Wahrheit: Aus dem unbedarften Forstarbeiter wurde derjenige, der im Ministerium für den Wald zuständig war, die Schneiderin wurde Augenärztin. Sozialer Aufstieg für alle? Die neue Gesellschaftsordnung hat eine neue Führungsschicht gebraucht, Leute, auf die Verlass war, die Stabilität garantierten. In dieser Schicht war Hermann Kant ein Hochtalentierter, ein Starker, der das auch wusste.
Nie mehr würde er sich verstecken können hinter irgendjemandes Rücken, prädestiniert würde er sein, was ihm wohl gefiel. Dass oben ein schärferer Wind weht, sei’s drum. »Waren Revolutionen die Lokomotiven der Weltgeschichte, so war David Groth der Weichensteller historischer Läufte«, hieß es über jenen Chefredakteur, der im Roman »Das Impressum« im Mittelpunkt stand. Kant dazu: »Wenn du dich nicht für einen Weichensteller oder Lokomotivführer hältst, kannst du es gleich lassen. Dann kannst du nur noch Bremser beim Rangieren sein.«
Ehrgeizig war er als Kind schon gewesen. Arrogant? So wurde er von vielen wahrgenommen. Andere – zum Beispiel sein Freund Stephan Hermlin – haben ihn in seinem Selbstbewusstsein immer wieder bestärkt. So hat er es auch verkraftet, als er einen avisierten Nationalpreis nicht erhielt und dass die fertigen Druckbögen seines Romans »Das Impressum« von 1967 bis 1972 im Keller lagen. Ein anderer hätte gedacht: Nun könnt ihr
»Wozu soll das Leben meine Erzählung brauchen? Etwa, um sich nach ihr zu richten? Erschrocken? Zur Besserung gewillt? Was nicht gar. Das Leben braucht meine Erzählung nur, daß es mich besser verstehen kann. Mich und einige andere noch.« Aus »Der Aufenthalt« von Hermann Kant
mich mal. Kant ließ sich 1969 zum Vizepräsidenten des Schriftstellerverbandes wählen, 1978 zum Präsidenten. Denn: »Wenn du es bist, kannst du dies und jenes machen. Und wenn du es nicht bist, musst du vieles mit dir machen lassen. Da war mir das Selber-Machen schon lieber.«
Aber wie viel »Selber-Machen« war denn möglich unter einer Partei- und Staatsführung, die Künstler nicht als freie Vordenker schätzte, sondern sie vornehmlich als ideologische Erfüllungsgehilfen betrachtete? Kant hat den Schriftstellerverband zu einer starken Berufsorganisation geformt, die seinen Mitgliedern soziale Absicherung bis hin zur Altersversorgung gewährte, hat sich um Papierkontingent und Reisemöglichkeiten gekümmert. Vor allem aber hat er mit seinem Verband Einspruch in gesellschaftliche Angelegenheiten beansprucht. Wo gab es das anderswo in der DDR, dass etwa ein Minister zur öffentlichen Stellungnahme bezüglich Umweltfragen veranlasst und abgeklatscht wurde, weil er sich mit Phrasen begnügte?
Soll man jetzt noch reden über das, was ihm nach dem Ende der DDR am meisten anhing? 1979 – das ist 37 Jahre her. Eher müsste man wohl sagen, dass eine auf Abrechnung bedachte Öffentlichkeit später in ihm einen Sündenbock fand. Er hätte im einzelnen erklären können, wer alles zu welchen Zwecken damals die Fäden zog, um neun politisch missliebige Autoren aus dem Schriftstellerverband auszuschließen, welche Rolle dabei Konkurrenz und Neid unter den Autoren spielten. Warum wehrte er sich dann nicht dagegen, dass man ihm allein die Verantwortung zuschob und andere sich hinter seinem Rücken versteckten?
Man muss Kant gut kennen, um zu verstehen, von welchen Ehrbegriffen er geleitet war. Er würde tatsächliche Verantwortlichkeit nie abstreiten, nie auf andere zeigen, geschweige denn sie mit Aussagen belasten. Damals, während jener Versammlung im Roten Rathaus hätte er doch seine Autorität gegen die große Mehrheit der Anwesenden ins Feld führen und dadurch womöglich eine andere Abstimmung herbeiführen können. Dann hätte die Obrigkeit aber Wege gefunden, ihn als Verbandspräsident abzulösen. Willfährigere Leute standen bereit. Der Verband, so meinte er, wäre in die Bedeutungslosigkeit gerutscht. Andere mögen ihm entgegenhalten, dass er sich Illusionen machte, weil 1979 der Konflikt zwischen Geist und Macht schon nicht mehr zu kitten war.
Nach dem Ende der DDR kann man schon immer gewusst haben, ab wann es mit diesem Staat bergab ging. 1979 oder 1976, 1968 oder 1961 oder gar 1953 schon? Und meinten im Westen nicht viele ohnehin, die DDR habe nie ein Existenzrecht gehabt?
Über das Scheitern des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs hat Hermann Kant später viel nachgedacht – »Das beste an der DDR war der Traum, den wir von ihr hatten. Diesem Traum bin ich treu geblieben«, so sein Bekenntnis. Hätte er abgeschworen, wäre die Medienöffentlichkeit freundlicher mit ihm umgegangen. Als Unverbesserlicher wurde er in die Ecke gestellt. Auch von Leuten, mit denen er sich im Bunde glaubte. Im November 1989 hatte er die Vertrauensfrage im Verband gestellt und war mit großer Mehrheit bestätigt worden. Zum nächsten Schriftstellerkongress im Februar 1990 wurde er schon nicht mal mehr eingeladen. Ohnehin war es mit dem Verband bald darauf vorbei. Er ging in der IG Medien auf und unter; von organisierter gesellschaftlicher Einmischung konnte keine Rede mehr sein, nicht mal mehr von jenem Austausch untereinander, wie er einst normal war. Heute sieht jeder selbst zu, wo er bleibt.
Kant, der von sich gesagt hatte, zuerst sei er ein politischer Mensch und erst dann Schriftsteller, Kant musste, nun losgelöst von allen politischen Ämtern, ganz und gar Schreibender sein. Für ihn selbst erstaunlich: die vielen Bücher, die nach 1990 entstanden sind. Bitternis und Schmerzen trotzend – und der Einsamkeit in Prälank. Seine geschiedene Frau Marion und die Kinder – er hing an ihnen in Liebe – jenseits der Meere. Wenigstens rief Sohn Matthias aus erster Ehe regelmäßig an. Und Bruder Uwe kümmerte sich ... Hinzu kam, unvermutet, eine Autorin aus Köln: Linde Salber hat 2013 eine Kant-Biografie verfasst: »Nicht ohne Utopie«. Sie, die vorher nicht einmal Kants Namen kannte, hatte sich nach der Lektüre von »Der Aufenthalt« in sein Werk vertieft und bis hin zu diversen Akten alles studiert, was über sein Leben Aufschluss gab.
Dennoch, die meiste Zeit war er allein. Nachts die kreisenden Gedanken: Wer war er, wie sollte er zu sich stehen? Tags dann das Sich-Aufraffen. Eine neue Seite Text, das wäre schon was. Er pusselte lang daran. Jener Stil, den Leser entweder mochten oder zu schwierig fanden, bereitete zuerst einmal ihm selber Vergnügen. Jens Jessen hat diese Vergnügtheit »rumpelstilzchenhaft« genannt. Wie hat sich Kant über dessen Rezension 2011 in der »Zeit« gefreut, die ihn endlich mal wieder literarisch würdigte, statt an seiner Person der DDR noch ein Paar Fußtritte zu verpassen.
»Federnde Bosheit und Freude am Metaphernspiel ... Der doppelte Boden« – das gab es in Kants Prosa immer. Kunst der Leichtigkeit in oft gegenteiliger Lage, um – er erzählte ja direkt oder indirekt von sich selbst – frei zu werden und zu sein von allem Bedrängenden. Denn die Realität kann so oder so sein, aber der Mensch ist selbstbestimmt in der Art, sie zu sehen. Seine Erzählungen, 2011 im Auswahlband »Lebenslauf, zweiter Abschnitt« gesammelt, seine gewitzt hintergründigen Romane »Okarina« (2002) und sein hintergründiger Roman »Kennung« (2010) sind dafür Paradebeispiele.
»Ich halte mich durch«, sagt sich Mark Niebuhr aus »Der Aufenthalt« als blutjunger Kerl in einer Zuchthauszelle. Ein Spruch, der wohl für Kants Leben insgesamt gelten kann. Da war der Ehrgeiz, etwas zu bewirken – natürlich Gutes, wenn es am Ende auch nicht immer gut wurde – und sich etwas abzuverlangen, wie es nur Wenigen gegeben ist. Haltung in jeder Situation, selbst dann noch, als es die Schwächen des Alters zu akzeptieren galt.
»Und dabei hätte ich schon so schön tot sein können« – mit diesem Satz ließ Hermann Kant sein letztes Buch beginnen. »Ein strenges Spiel«, erschienen 2015 im Kulturmaschinen Verlag, handelt in jenem Krankenhaus, wo er jetzt starb, und entstand doch im Widerstand gegen den Tod. Als Motto hatte er ein Zitat aus »Okarina« gewählt: »Ich will, wie lustig von mir, Herr über mein Lebens sein.«
Noch einmal Selbstermächtigung durch Schreiben. Danach nur noch Durchhalten. Tag für Tag erlebte er das Schwinden seiner Kräfte. Die Augen taugten immer weniger zum Lesen. Aber immer hatte er eine freudige Stimme am Telefon, gab gewitzte Kommentare zu Groß- und Kleinereignissen des Tages, erkundigte sich eingehend nach meinem Befinden. Nein, ich solle mir keine Sorgen machen. – Wie viel Tapferkeit das Alter einem Menschen doch abverlangt.
Jahrelang hatte er seinem mögliches Ende ins Auge gesehen. Seine künstliche Herzklappe hielt ja schon viel länger, als ihm angekündigt worden war. Doch in letzter Zeit sprach er nicht mehr davon. Er hatte sich entschieden, seinen Weg so lange zu gehen, wie es ihm möglich sein würde, und alles auf sich zu nehmen – Krankenhaus, Diagnostik und Therapie –, was auch immer ihn erwarten würde.