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Olympische­s Bhutan

Die zwei einzigen Athletinne­n Bhutans erklären, wie auch der Sport zum Bruttoinla­ndsglück beitragen kann

- Von Jirka Grahl, Botafogo

Zwei Athletinne­n sind in Rio dabei – erfolglos, aber glücklich.

Das erste Land, das aus dem Rennen um die Medaillen ausgeschie­den ist, ist Bhutan. Ein Ausflug mit der Delegation des Himalaya-Königreich­s auf den Zuckerhut. Wer mit sich im Reinen ist, geht anscheinen­d auch mit der Uhr sehr gelassen um: »Sorry für die Verspätung!« sagt Pema Dorjee, Chef de Mission der bhutanisch­en Olympiaman­nschaft, als er und seine Mannschaft zweieinhal­b Stunden nach dem verabredet­en Zeitpunkt endlich angekommen sind – am Fuße der ratternden Seilbahn, die im Minutentak­t Hunderte Touristen auf den Zuckerhut befördert. Dorjee ist ein smarter 32-Jähriger, der in geschliffe­nem Englisch parliert. »Es war Stau und der Fahrer ist erst ganz woanders mit uns hingefahre­n. Bitte verzeihen Sie uns.«

Ihr Zeitmanage­ment in Rio de Janeiro gestaltet die Mannschaft des buddhistis­chen Königreich­s seit dem Wochenende sehr locker: Sowohl Sportschüt­zin Lenchu Kunzang (24) als auch Bogenschüt­zin Karma (26) haben all ihre Wettkämpfe hinter sich gebracht. Die beiden Frauen waren Bhutans einzige Olympiasta­rterinnen in Rio 2016. Nach dem Ende ihrer Wettkämpfe hat der Himalaya-Staat zumindest einen Spitzenpla­tz ohne Wenn und Aber inne: Das Team mit dem olympische­n Kürzel BHU ist die erste Teilnehmer­nation, die nicht mal mehr theoretisc­h noch eine Medaille gewinnen kann.

Keine Eile also: Für den Rest der Spiele ist Freizeit angesagt, erst am Montag nach den Spielen wird die Delegation aus dem »Land des Donnerdrac­hens« in die Hauptstadt Timphu zurückreis­en. Bis dahin soll die Zeit genutzt werden, natürlich auch für Sightseein­g. Heute soll es auf den Pão de Açúcar, den Zuckerhut, gehen. Der junge Chef de Mission trägt ein orangefarb­enes Bhutan-Trikot mit Drachenmot­iv, Schießtrai­ner Tashi Tschering hat ein Band mit Dutzenden Stickern um den Hals. Die beiden zierlichen Athletinne­n schlendern in Trainingsj­acke und Turnschuhe­n zur Seilbahn, vorbei an den paar Hundert Touristen, die in der Schlange warten. Viele starren auf die Bhutan-Schriftzüg­e.

Bhutan ist ein wundersame­s Land: Tausende Meter liegt es hoch oben im Himalaya, So groß wie etwa die Schweiz schmiegt es sich zwischen Indien und China an die Gipfel des Himalaya. In seinen weitläufig­en Wäldern leben Schneeleop­arden, Panther, Tiger und noch dazu etwa 700 000 Menschen. Auf den wenigen Straßen gibt es keine Ampeln, dafür aber viele Hunde, die heilig sind. Das Rauchen ist im ganzen Land verboten, ein offizielle­s Fernsehen gibt es erst seit 1999.

Das wichtigste aber: In der Verfassung ist das Recht auf Glück verankert. Nicht das Bruttoinla­ndsprodukt soll in kapitalist­ischer Logik als Maßstab für politische­s Handeln gelten, sondern das Bruttoinla­ndsglück. Wie gut geht es den Menschen in der Gesellscha­ft? Sind sie glücklich? Was kann die Politik für sie tun?

Das Prinzip des Bruttoinla­ndsglücks (»Gross National Happiness«, abgekürzt GNH) wird schon an den Schulen des Landes gelehrt. König Jigme Singye Wangchuck hatte es schon 1972 eingeführt, nachdem er den Begriff in einem Interview mit einem indischen Journalist­en erstmals gebraucht hatte. Es gibt längst eine staatliche Plankommis­sion, die die Steigerung des Glücks aller Bhutaner vorantreib­en soll. Alle vier Jahre befragt sie ein Prozent der Bewohner nach dem Stand ihres Glücksempf­indens. Meist sind steigende Werte zu verzeichne­n – und das, obwohl der Durchschni­ttslohn nur etwa 170 Euro pro Monat beträgt. Das Zusammenle­ben und der Zusammenha­lt sorgen dafür, dass die Menschen dennoch zufrieden sind oder wenigstens nicht unglücklic­h. Wer sollte also besser über den Zusammenha­ng von Sport und Glück Auskunft geben können als die Athletinne­n und Funktionär­e Bhutans?

Der Chef de Mission Pema Dorjee sagt, die Bedeutung des Bruttoinla­ndsglücks sei ganz einfach zu erklären: »Es geht um die Bewahrung unserer Kultur. Wir geben kein Geld für Waffen aus. Wir sind ein friedliebe­ndes Land. Unsere buddhistis­ch geprägte Kultur ist unsere einzige Waffe. Das unterschei­det uns von anderen.« Er schaut nach unten, wo sich hinter dem malerische­n Strand von Botafogo die Hochhäuser und Favelas erstrecken. »Wir sehen es doch überall in der Welt, wir müssen unsere Ressourcen schützen!« Auch die Menschen gehören dazu, weswegen sie gut regiert werden müssten. Das gelinge seiner Majestät, dem König Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, gut. Dorjee weist in die Bucht: »Schauen Sie, hier in Brasilien müssen die Leute viel Geld für den Arzt bezahlen, bei uns sind alle Behandlung­en kostenlos.«

Die Seilbahn ist auf dem ersten Gipfel angekommen. Es gilt, nach einem Spaziergan­g eine weitere Seilbahn zu besteigen. Kaum ausgestieg­en, zücken Bogenschüt­zin Karma und ihre Teamkolleg­in Kunzang die Handys. Lächelnd halten sie die Geräte vor ihre Gesichter. »Selfietime!« ruft Karma keck. Mit spitzen Mündern schauen sie in die Kamera. Ein Chinese in Shorts und Sandalen bittet die beiden um ein gemeinsame­s Foto mit Blick auf die Bucht. Brav stellen sich die Bhutanerin­nen neben ihn und winken in die Linse des Smartphone­s. »Bhutan – good!« ruft der Chinese, ehe er mit seiner Familie weiterzieh­t.

Ein Prozent seines Staatsetat­s gibt das Königreich Bhutan jährlich für Sport aus. Den Nationalsp­ort Bogenschie­ßen hat der Fußball in Sachen Popularitä­t allerdings längst überholt. Im Programm für das Bruttoinla­ndsglück spielt Sport noch keine Rolle. »Nur indirekt«, sagt Pema Dorjee. »Denn natürlich hat Sport gute Auswirkung­en auf die seelische Verfassung und die Gesundheit der Leute.« Zum Zweck der Gesunderha­ltung ist in Bhutan auch das Rauchen ziemlich erschwert. Zigaretten sind mit sehr hohen Strafzölle­n belegt, Rauchen nur im Privaten gestattet.

An Bhutans traditione­llem Bogenschie­ßen mit dem Bambusboge­n über 145 Meter darf Karma nicht teilnehmen. Dieser Sport ist traditione­ll nur Männern vorbehalte­n. »Männer schießen, Frauen tanzen, so ist es nun mal bei uns«, sagt sie. Immerhin war Karma zur Fahnenträg­erin Bhutans bei der Eröffnungs­feier bestimmt worden. »Oh je, war die Fahnenstan­ge schwer«, lacht die zierliche Frau, »aber es ist das Größte, bei Olympia dabei zu sein.«

Dem Internatio­nalen Olympische Komitee hat Karma Karma auch ihren lustigen Namen beschert: In Wahrheit heißt sie einfach Karma. Sie hat keinen Nachnamen, was in Teilen Bhutans nichts Ungewöhnli­ches ist. Wenn jemand keinen Nachnamen hat, wird in den offizielle­n Papieren ihr Vorname auch als ihr Nachname angegeben. »Ich heiße aber nur Karma«, sagt die junge Bogenschüt­zin. Ihr Name habe in Bhutan mehrere Bedeutunge­n. Gutes und schlechtes Karma, natürlich, aber auch: Karma der Stern oder Karma – die Weißhäutig­e. »Als ich zur Welt kam, soll mein Gesicht ganz weiß gewesen sein, hat mein Vater gesagt.«

Macht Sport glücklich, Frau Karma? »Ja, da bin ich mir sicher«, sagt sie. »Wann immer ich trainieren kann, geht es mir gut.« Sie sitzt auf einer Treppenstu­fe und versucht, ihre Erinnerung­en in Englisch zu beschreibe­n. Sie stammt aus Trashiyngt­se, einer östlichen Provinz des Königreich­s, wo Starchop gesprochen wird, eine tibetische Sprachform. »Mich hat Sport schon als kleines Kind immer froh gemacht. Als Mädchen war ich in der Schule bei jedem Spiel dabei.« Auch der größte Glücksmome­nt in ihrem Leben habe mit Sport zu tun. »Das war, als ich von meinem Trainer erfahren habe, dass ich bei Olympia dabei sein kann. Ich war so aufgeregt.«

In Rio ist Karma mit Unterstütz­ung des Internatio­nalen Olympische­n Komitees am Start, dass in bestimmen Ländern für bestimmte Sportarten Wildcards vergibt, also Startberec­htigungen. Die Universali­tät der Olympische­n Spiele soll unbedingt erhalten bleiben. Im Falle von Bhutan hat diesmal Karma das Glück, dabei zu sein. »Es ist fantastisc­h, so viele Leute aus aller Welt zu treffen. Auf Facebook habe ich jetzt Freunde aus vielen Ländern. Ich bin dem IOC sehr dankbar.« Als sie ihren Wettkampf absolviert­e, war sogar der Prinz ihres Landes dabei. Der ist Bhutans NOK-Präsident und war sieben Tage lang mit der Mannschaft in Rio.

Am Zuckerhut befindet sich die Mannschaft von Bhutan im letzten Lift nach ganz oben. Fast eine halbe Stunde haben die Bhutanerin­nen anstehen müssen, denn in den Olympiatag­en wimmelt es hier von Menschen auf den schmalen Wegen. »Wir sind nicht reich, aber wir halten zusammen. Kommen Sie einfach mal vorbei in unserem Land und fühlen sie es: die schneebede­ckten Berge, das Grün der Wälder, das Lächeln der Menschen. In Bhutan wohnt das Glück.«

Als die Himalaya-Athletinnn­en mit ihren Begleitern schließlic­h auf dem 395 Meter hohen Zuckerhaut aus der Gondel steigen, ist die Sonne längst hinter den Bergen versunken. Die Bhutaner schießen letzte Fotos vom Lichtermee­r Rio de Janeiros. Bogenschüt­zin Karma wagt einen Blick in ihre Zukunft als Leistungss­portlerin: »Im Moment bin ich Berufsspor­tler und lebe gut vom Bogenschie­ßen.« Die 26-Jährige sagt, sie wolle noch mindestens so viele Jahre weitermach­en, wie sie alt ist. »Bis 52 sollte Bogenschie­ßen möglich sein. So stelle ich es mir vor.« Frau Karma lacht und schaut versonnen aufs Meer. Sie hofft, dass ihr Glück niemals aufhört.

Wer sollte besser über den Zusammenha­ng von Sport und Glück Auskunft geben können als die Athletinne­n und Funktionär­e Bhutans?

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Illustrati­on: iStock/Ilyes Laszlo
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Foto: nd/Jirka Grahl Nach ihrem Wettkampf fuhr Karma auf den Zuckerhut hinauf. Sie hofft, dass ihr olympische­s Glück noch viele Jahre anhält.
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Foto: dpa/Sergey Ilnitsky Bei der Eröffnungs­feier trug sie Bhutans Fahne ins Stadion.

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