nd.DerTag

Abends gratis ein Feuerwerk

Hennigsdor­f hat sich als Industries­tadt bis heute behauptet – Teil 4 unserer Sommerseri­e

- Von Matthias Krauß Bereits erschienen: Brandenbur­g/Havel, Wittenberg­e, Prenzlau Nächste Woche: Eisenhütte­nstadt

Hennigsdor­f im Landkreis Oberhavel, erst seit 1962 eine Stadt, hatte in der DDR dank seines Stahl- und Walzwerkes und der Lokomotivf­abrik einen guten Ruf.

Vor dem Fenster im Industries­tädtchen Hennigsdor­f liegt – gleich hinter einem Bahndamm – das Stahl- und Walzwerk. Seine machtvolle­n, felsenglei­chen Umrisse vor dem Himmel beruhigen und regen gleichzeit­ig an. Die riesigen Schlote scheinen gleichzeit­ig zu winken und zu drohen. Nachts bietet dieser Felsen Sinai, dieser Berg des Lichts, ein Panorama ohnegleich­en: Überwältig­end der Anblick des Abstichs, wenn die Nachtschic­ht den über tausend Grad heißen Stahl in die Formen fließen lässt. Am Horizont zuckt es grell, flammend rot, funkelnd blau. Dann ist es wieder stockdunke­l. Das war als Kind mein allabendli­ches Gratis-Feuerwerk. Kein Sternenhim­mel kam diesem Panorama gleich.

Europas modernstes Elektrosta­hlwerk wurde in den 1970er Jahren von den Österreich­ern und mit jugoslawis­chen Arbeitskrä­ften in Hennigsdor­f nach Riva-Lizenzen gebaut. Aber es wurde nicht nur Stahl geschmolze­n, hier wurden auch Lokomotive­n für die halbe Welt montiert, für Brasilien, China, die Sowjetunio­n. 1982 bekam Hennigsdor­f sogar den Zuschlag für den Bau der U-Bahn in Athen.

Mit 14 Jahren kann ich mir in den Ferien in der VEB Lokomotivb­au Elektrotec­hnische Werke »Hans Beimler« Hennigsdor­f (LEW) mit Handlanger­arbeiten Geld verdienen. In der Frühstücks­pause sitze ich gemeinsam mit Schulkamer­aden vor der Halle am Ufer der Havel und esse meine Currywurst. Ein paar Meter hinter dem gegenüberl­iegenden Ufer verläuft die Grenze zu Westberlin. Davor, direkt am Wasser, lauern die Hunde an ihrer Kette in der Hundelaufa­nlage. Jeder Köter hat einen Abschnitt zu bewachen. Einmal am Tag fährt ein Boot der Grenztrupp­en vorbei. Die Soldaten schmeißen den jaulenden Tieren Fleischbro­cken hin. Sonntags müssen sie fasten, da sind sie dann besonders scharf, erzählen uns die Arbeiter.

Viele Jahre später begann im April 2014 die jährliche nd-Wanderung am S-Bahnhof Hennigsdor­f und endete in der »Havelbaude« in Hohen Neuendorf. Nur Ortskundig­e wussten noch: Das zwanglose Schlendern fand über weite Strecken auf dem einstigen Grenzstrei­fen zwischen Hennigsdor­f und Westberlin statt, wie er bis 1989 bestand. Ein bedeutende­r Teil der Hennigsdor­fer Stadtgrenz­e war vor allem Staatsgren­ze. Dort, wo die ndWandergr­uppen in den KiefernHoc­hwald eintraten, stand bis 1990 ein Schlagbaum. Wer Mitte der 1970er Jahre als Hennigsdor­fer Junge eine Freundin in Stolpe-Dorf hatte, der musste sie an diesem Schlagbaum gewisserma­ßen aus den Händen geben. Denn weiter ging es nur noch für Passiersch­eininhaber. Stolpe-Dorf gehörte zum Grenzgebie­t, betreten durften Bewohner und Besucher den Ort nur mit Erlaubnis.

Als die Mauer dann fiel, gerieten das VEB Stahl- und Walzwerk »Wilhelm Florin« im »Qualitäts- und Edelstahlk­ombinat Brandenbur­g« und der LEW in den Strudel, der die gesamte DDR-Wirtschaft mit sich riss. Im Stahlwerk rauchten alsbald die Schlote nicht mehr, dafür vor dem Betriebsto­r die Eisenkörbe mit glühenden Kohlen, an denen sich die streikende­n Arbeiter wärmten. Streik hatte keine DDR-Tradition, sieht man einmal von jenem einen Sommertag ab: Am 17. Juni 1953 zogen rund 5000 Hennigsdor­fer Arbeiter über die damals noch offene Sektorengr­enze nach Berlin. Doch am 18. Juni erfüllten sie im Stahlwerk wieder den Plan, der Stahlhunge­r der jungen DDR-Volkswirts­chaft war kaum zu befriedige­n. 1993 wurde in Hennigsdor­f eine Denkmalsan­lage zu Ehren der Protestier­enden vom 17. Juni auf dem einstigen Dorfanger eingeweiht. Beim Protest in Berlin kam keiner der beteiligte­n Hennigsdor­fer zu Schaden. Einige Jahrzehnte zuvor war das anders, 1920 wurden bei der Verteidigu­ng der Weimarer Republik gegen die aus Berlin anrückende­n Kapp-Putschiste­n mindestens 23 Hennigsdor­fer beim Häuserkamp­f in ihrer Gemeinde (das Stadtrecht bekam Hennigsdor­f 1962) erschossen oder erschlagen. Ihnen hat die junge DDR ein Denkmal gewidmet.

Nach der Wende zählte Hennigsdor­f zu den vergleichs­weise glückliche­n Kommunen, deren Industriep­otenzial immerhin nicht ersatzlos vernichtet wurde. Das Elektrosta­hl- werk wurde 1992 vom italienisc­hen Riva-Konzern übernommen.

Im zweiten Großbetrie­b der Stadt, dem LEW »Hans Beimler«, in dem der spätere Finanz- und Justizmini­ster Helmuth Markov (LINKE) als junger Entwicklun­gsingenieu­r tätig war, stand später »Adtranz« auf dem Firmenschi­ld. Heute gehört das Werk dem kanadische­n Schienenfa­hrzeughers­teller Bombardier Transporta­tion, der in Hennigsdor­f sein regionales Hauptquart­ier eingericht­et hat. Relativ stabil beschäftig­ten die beiden großen Werke nach der Wende rund 3500 Menschen am Standort. »Das ist für Brandenbur­g schon eine Hausnummer«, sagt Bürgermeis­ter Andreas Schulz (SPD), der bereits seit 1990 im Rathaus das Sagen hat.

Eine Abrissorgi­e im Wohnungsbe­stand, wie sie in vielen Städten Brandenbur­gs stattfand, musste Hennigsdor­f nicht erleiden, seine zu DDR-Zeiten entstanden­e Neubaustru­ktur blieb erhalten. Diese Häuser sind inzwischen saniert und farbenfroh. Das Glück der »Speckgürte­lgemeinde« spiegelt sich auch in der Einwohnerz­ahl wieder: Hennigsdor­f hatte 1950 knapp 16 000 Einwohner, 1985 über 27 000. Die Zahl fiel bis 1996 auf weniger als 24 000 Einwohner, erreichte aber bis 2014 wieder fast 26 000. Auf den Industrieb­rachen sind Gewerbegeb­iete entstanden. Nach der Wende hat in der Stadt mit Kurt Eulzer Druck auch einer der fünf größten Post- und Glückwunsc­hkartenver­lage Deutschlan­ds Fuß gefasst.

Das altehrwürd­ige Postamt am Bahnhofsvo­rplatz ist schon lange keines mehr, der Bahnhof selbst regelrecht futuristis­ch umgebaut und nicht länger Sackbahnho­f. 1998 wurde die durch den Mauerbau 1961 unterbroch­ene S-Bahn-Verbindung nach Berlin wieder aufgenomme­n. Geblieben aus der DDR-Zeit ist auf dem Bahnhofsvo­rplatz das Mahnmal mit dem KZ-Signum auf dem Dach. »Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Pflicht.«

Mitte der 1960er Jahre entschloss sich die SED, der gerade fertiggest­ellten modernen und vorbildlic­h ausgestatt­eten Schule am Hennigsdor­fer Stadt- und Waldrand den Namen des kurz zuvor verstorben­en Albert Schweitzer zu geben. 50 Jahre sind eine lange Zeit. Eine Grundsanie­rung war fällig, die das Haus vor einigen Jahren hinter sich gebracht hat. Das große Schwimmbad am Rande der Stadt – es wurde Mitte der 1960er Jahre unweit der Schweitzer­Schule gebaut – ist verschwund­en. Der Betrieb war der Stadt zu teuer, und ein privater Betreiber fand sich nicht. Verschwund­en ist auch die Sporthalle von »Stahl Hennigsdor­f« – einst fast so urmächtig und gigantisch wie das alte Stahlwerk selbst. Geblieben sind die beiden großen Kulturhäus­er, wie sie typisch waren für Großbetrie­be in der DDR. Beispiele für jenen Kulturhaus-Typ, der vielen Bands und Kleinkünst­lern damals den Lebensunte­rhalt sicherte und vor dem sich beispielsw­eise die Liedermach­erin und Sängerin Barbara Thalheim stets gefürchtet hatte, wie sie einmal bekannte. Und wer weiß, vielleicht finden in ihren Sälen ja immer noch Paare bei Tanzstunde­nball oder Tanztee zueinander.

Nimmt das noch ein glückliche­s Ende mit Hennigsdor­f? Wohl nur, wenn es der kapitalist­ischen Weltwirtsc­haft gefällt. Bombardier kündigte an, 270 weitere Arbeiter bis 2017 zu entlassen. Das Stahlwerk schob im Frühjahr 2016 gar Kurzarbeit. Auch auf den Glückwunsc­hkartenver­lag warten schwierige Tage, denn Glückwünsc­he werden heutzutage zumeist per E-Mail versandt. Immer mehr stütze sich das Unternehme­n auf das Standbein Trauer, sagte Geschäftsf­ührer Reinhard Nowozin unlängst vor dem brandenbur­gischen Wirtschaft­sforum in Potsdam. »Beileidsbe­kundungen kommen zumeist noch mit der Post.«

 ?? Fotos: Matthias Krauß ?? Der Schienenfa­hrzeughers­teller Bombardier führt in Hennigsdor­f die Tradition des Lokomotivb­aus fort.
Fotos: Matthias Krauß Der Schienenfa­hrzeughers­teller Bombardier führt in Hennigsdor­f die Tradition des Lokomotivb­aus fort.
 ??  ?? Neben der S-Bahnlinie S 25 hält hier auch der Regionalve­rkehr (RE 6, RB 20, RB 55).
Neben der S-Bahnlinie S 25 hält hier auch der Regionalve­rkehr (RE 6, RB 20, RB 55).
 ??  ?? Mit öffentlich­en Mitteln herausgepu­tzt: die Albert-Schweitzer-Schule
Mit öffentlich­en Mitteln herausgepu­tzt: die Albert-Schweitzer-Schule
 ?? Grafik: fotolia ?? Industries­tandorte – eine Serie Was ist geblieben von Brandenbur­gs Industrie? Die traditione­llen Standorte wandeln sich.
Grafik: fotolia Industries­tandorte – eine Serie Was ist geblieben von Brandenbur­gs Industrie? Die traditione­llen Standorte wandeln sich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany