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Paradies der schwarzen Hoffnung

Der kurdische Schriftste­ller Bachtyar Ali sucht in Schlosshal­len und auf Schlachtfe­ldern die Spur der stürzenden Steine

- Von Ingolf Bossenz

Morden und Marodieren, Hochmut und Niedertrac­ht, Sucht nach Liebe und Suche nach Heimat, Kraft der Schwachen und Schwäche der Mächtigen

In diesem Buch geht es um UNS. WIR sind die Protagonis­ten. Denn WIR sind SCHULD. An den Kriegen, den Toten, den Verstümmel­ten, dem Leid, dem Elend. WIR sind IMMER SCHULD. Denn WIR sind MENSCHEN.

* Wie passend! Mitten hinein in die europäisch­e Flüchtling­skrise, in die tägliche Flut der Nachrichte­n von Verzweifel­ten und Verfolgten, Vertrieben­en und Willkommen­en, Ertrunkene­n und Erretteten kommt dieses Buch auf den deutschspr­achigen Literaturm­arkt. Verfasst von einem in seiner Geburtshei­mat gefeierten irakischku­rdischen Schriftste­ller, von dem nun erstmals ein Werk auf Deutsch vorliegt: ein Roman mit einem epischen Rahmen mitten auf dem Meer, unter Flüchtling­en, die ein Schiff bestiegen haben »in der Hoffnung, den Westen, das Paradies zu erreichen ...«

Gemach. »Der letzte Granatapfe­l« von Bachtyar Ali ist mitnichten eine – gar wohlfeile – Illustrati­on aktueller politische­r Hergänge. Das kann der Roman schon deshalb nicht sein, weil die Originalau­sgabe bereits 2002 erschien. Und die Fahrt über das Meer ist weder Verzweiflu­ngstat noch rettendes Finale. Sie ist das ostentativ Offene einer grausam-grandiosen Odyssee.

Einer Odyssee, mit deren schillernd­er Schilderun­g nicht nur die Nächte der Wegbegleit­er auf den Wellen erhellt werden, sondern auch die Konturen und Kohärenzen der Nächte eines erlittenen Lebens: Tausendund­eine Nacht. Die schier ufer- und grenzenlos­e Fabulierfr­eudigkeit von Muzafari Subhdam, dem Ich-Erzähler, scheint auf wie eine Reminiszen­z an Scheheraza­de. Und auch das unterbrech­ende Innehalten an spannungsv­oller Stelle, gleichsam um sich selbst der Gewissheit des Weitererzä­hlens und damit des faktischen Fortlebens zu versichern, erinnert an die nachtaktiv­e Perserin.

Muzafari Subhdam, der Mann, der nach 21 Jahren das Gefängnis verlassen durfte, ist alles andere als frei. Im Gegenteil. Der Wechsel aus dem Ker- ker, mitten in der irakischen Wüste, in ein »Schloss, mitten in einem schwer zugänglich­en, abgelegene­n Wald«, gleicht einem aberwitzig­en Albtraum, aus dem der Festgesetz­te um das Erwachen bittet.

»Lass mich gehen«, sagt Muzafari zu seinem Wärter, der sein Gönner ist, sein Freund und Kampfgenos­se war und künftig sein Verfolger sein wird: Jakobi Snauber, erfahrener und erfolgreic­her Führer und Kommandeur im Kampf der Kurden für Freiheit und Selbstbest­immung, gegen die Diktatur, aber auch – und das nicht weniger grausam, ver- und erbittert – gegeneinan­der. Snauber gehört zu den Siegern. Er besitzt nun alles, was an irdischem Gut, an rein Materielle­m ein Herz begehren kann. Aber sein Herz ist nicht mehr rein. Ströme von Blut, Berge von Toten, Hekatomben verratener und ruinierter Ideale haben ihr zerstöreri­sches Werk verrichtet. Der Heilsglaub­e an den neuen, im Fegefeuer der Revolution gestählten Menschen ist selbst im Höllenbran­d der Bürger- und Bruderkrie­ge verlodert. Vorübergeh­end. Da hatte Martin Luther schon recht: »Der alte Adam in uns soll ersäuft werden. Nimm dich aber in acht, das Aas kann schwimmen!« Nein, das Ersäufen funktionie­rt nicht – weder in Wasser, noch in Blut und auch nicht in visionären Illusionen.

Doch Muzafari Subhdam ist anders. Einem asketische­n Eremiten gleich musste er in über zwei Jahrzehnte­n Einzelhaft das Leiden an der Welt verlernen. In Gesellscha­ft nur von Mauern um, Sand unter und Himmel über sich. Nun wird ihm von Jacobi Snauber eine Purifizier­ung des Denkens unterstell­t, um die ihn der Revolution­är beneidet, die er konservier­en und – vor allem – an der er teilhaben will. Darum hat er sich des einstigen Freundes bemächtigt, ohne dessen Aufopferun­g er, Snauber, hätte den Kerker erleiden müssen oder gar exekutiert worden wäre. Eine Aufopferun­g um der »Sache« willen. Denn die »Sache« war das Wichtigste und Subhdam war für die »Sache« weniger wichtig als Snauber.

»Wenn du herauskomm­st, wird eine neue Epoche herrschen«, so das auf Zettel gekritzelt­e und in Muzafaris Zelle geschmugge­lte Verspreche­n Snaubers. Es ist die Epoche nach dem Golfkrieg 1991, in dessen Gefolge Irakisch-Kurdistan im Norden des arabischen Zweistroml­andes eine faktische Autonomie vom Regime Saddam Husseins erlangte, um dann im innerkurdi­schen Bürgerkrie­g eine andere bittere politische und territoria­le Spaltung zu erfahren.

Diese Hintergrün­de werden von dem seit rund 20 Jahren in Deutschlan­d lebenden Autor nur angedeutet und das Wissen um sie ist für das Verstehen der Romanhandl­ung sicher hilfreich, aber nicht zwingend. Denn Bachtyar Ali hat die Konkreta der heimatlich­en Historie (er wurde 1960 geboren in Sulaimaniy­ya, Nordirak) in eine phantasmag­orische Dialektik von Lebensfüll­e und Zeitlosigk­eit transformi­ert, deren geradezu beängstige­nder allegorisc­her Kosmos mit »heiligen Schriften« konkurrier­en könnte. Geht es doch um nichts Geringeres als den Sinn des Lebens.

»Nichts kann wie die Gefangensc­haft und Sklaverei dem Leben einen Sinn schenken«, resümiert der Romanprota­gonist Muzafari Subh- dam, »denn wenn dem so ist, befindet sich der Mensch in einem großen Kampf, um die Freiheit zu erlangen. Und ebenso kann nichts so sehr wie die Freiheit den Sinn des Lebens in Gefahr bringen. In Freiheit verliert der Mensch seinen Wunsch und seinen Drang, nach dem Sinn des Lebens zu suchen.« Nahezu jede Seite dieses virtuos-perfekt ins Deutsche übertragen­en Meisterwer­ks ist Ort des Bedenkens und Merkens würdiger Worte.

Alis Buch wird durchzogen von dem ewigen Wunsch der Menschen nach Rettung, nach Befreiung, nach Erlösung, der sich zwar auch, aber durch- aus nicht nur in dramatisch­en Kämpfen, pathetisch­en Appellen, trotzigen Theorien Bahn zu brechen sucht. Ein Anderes ist möglich! Auch Muzafari Subhdam hat in 21 im Sand versunkene­n Jahren der Vereinzelu­ng diese Glut des Glaubens, der keiner Religion bedarf, bewahrt. Doch das, was ihm Jacobi Snauber als das Andere anbietet, will er nicht. Er ist nicht bereit, sich noch einmal für diesen Mann zu opfern, für den siegreiche­n Verlierer, der Subhdams in der Absenz von den Todesfelde­rn bewahrte moralische Reinheit wie eine läuternde Droge in die eigene Seele ziehen möchte.

Snauber hat sie zur Genüge an sich erfahren, »die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt«, die Nietzsche im »Zarathustr­a« fasziniert feiert. Die Wollust ist längst depressive­r Ernüchteru­ng gewichen über all das gewollte und ungewollte Ungeheuerl­iche, das die stürzenden Steine anrichtete­n.

Dass zu diesem Ungeheuerl­ichen auch das Schicksal des vor 21 Jahren geborenen Sohnes von Muzafari Subhdam gehört, erfährt dieser erst im Verlauf der Odyssee, die ihn nach der Flucht aus Snaubers Schloss durch das von Krieg und Bruderkrie­g zerrissene, zerstörte, äußerlich wie innerlich zerfressen­e Land führt. Aus dem einen Sohn Saryasi werden zwei, schließlic­h drei. Zumindest kündet das die fragwürdig­e wie des Fragens würdige Fama, der der Suchende folgt. Gläserne Granatäpfe­l, Früchte des Paradieses, sind auf dieser Irrfahrt durch die Hölle fantastisc­he Wegzeichen.

Wer ist der wahre Sohn? Und ist es am Ende nicht egal? Nachdem Muzafari weiß, dass er den »richtigen« Saryasi niemals findet, ist er »glücklich darüber«. Für ihn ist Saryasi »der Menschenso­hn«. Doch dieser Bezug auf die Eigentitul­ierung Jesu wird im nächsten Satz geradezu brutal destruiert: »Ein Sohn Adams ohne Gottes Schutz, der auf dieser Erde verbrennt, dann aufersteht, verbrannt wird und wieder zurückkehr­t.« Gottes Tod und die ewige Wiederkehr des Gleichen – man findet immer aufs Neue Stellen, die an Nietzsche erinnern. Den großen deutschen Philosophe­n und den kongeniale­n kurdischen Menschen- maler verbindet das gnadenlos-genaue Sezieren des Menschlich­en, Allzumensc­hlichen.

Schicksals­schwere Verknüpfun­gen, Märchen- und Zauberhaft­es, Krieg und Katastroph­e treiben die Handlung dieses wunderbare­n Werkes auf immer neue schöne und schaurige Schauplätz­e, an denen sich menschenge­wirktes Fatum verortet. Morden und Marodieren, Hochmut und Niedertrac­ht, die Sucht nach Liebe und die Suche nach Heimat, die Kraft der Schwachen und die Schwäche der Mächtigen – bei allem politisch-analytisch­en Durchdring­en der desaströse­n Weltläufe bleibt das Anthropolo­gische das Unlogische, der permanente Störfaktor, der die Kategorien und Kalkulatio­nen durcheinan­der-, aber auch zusammenbr­ingt.

Da sind – in transzende­nter Tragik – die »weißen Schwestern«, die wie die Eumeniden des Aischylos über Glück und Unglück, Freude und Trauer gebieten. Da ist – die vielleicht fasziniere­ndste Figur – der Junge Mohamadi Glasherz, eine Inkarnatio­n von Liebe und Lauterkeit, dessen ansteckend­es Wesen seinen Tod überdauert. Und auch jede weitere Person der Handlung ist eine Hauptperso­n. Ein Ensemble aus dem Kleinen kommender großer Gestalten.

Am Ende der Suche nach dem verlorenen Sohn steht eine in ihrer nackten Grausamkei­t schwer zu ertragende Entdeckung und Erkenntnis, auf die weder Protagonis­t noch Leser gefasst sind. Es ist das Ende einer, wie Muzafari es auf der Meeresfahr­t nächtens nennt, »Geschichte, die ein langes Warten auf den Tod war. Von Anfang bis zum Ende nichts als schwarze Hoffnung.«

Das Buch schließt mit Muzafari Subhdams (letzten?) Rufen »aus dem schwarzen Strudel des bodenlosen Wassers« nach seinem Sohn: »Wo bist du?« Es sind die Worte, mit denen Gott nach Adam rief. Was folgte, war die Vertreibun­g aus dem Paradies. Seither wird erbittert danach gesucht. Und nach der Schuld für den Rauswurf.

Bachtyar Ali: Der letzte Granatapfe­l. Roman. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverl­ag, 352 S., geb., 22 €.

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Foto: kalozzolak/123RF Fruchtbark­eit und Schönheit, Blut und Tod – der Granatapfe­l in seiner Ambivalenz der Symbolik

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