»Eigentlich ist es ganz ruhig hier«
Im Rostocker Stadtteil Groß Klein treffen Geflüchtete auf Arbeitslose und gut organisierte Rechte
Weil ein rechter Mob gegen hier lebende Flüchtlinge protestierte, mussten diese Groß Klein verlassen. Ist der Rostocker Stadtteil nun eine national befreite Zone? Ein Lokaltermin. Der Rostocker Stadtteil Groß Klein liegt gar nicht so schlecht. Bis zum berühmten Ostseebad Warnemünde sind es mit der S-Bahn nur fünf Minuten. Und auch das Stadtzentrum ist mit der Bahn nur eine Viertelstunde entfernt. Trotzdem zieht man in die Plattenbausiedlung nicht wegen der schönen Lage, sondern wegen der billigen Mieten. Auf den ersten Blick wirkt das in den frühen 80ern entstandene Viertel wie alle anderen Großsiedlungen im Nordwesten der Hansestadt. Die Unterschiede zeigen sich erst auf den zweiten blick. Hinter dem Bahnhof liegt das Bürger- und Einkaufszentrum »Klenow-Tor«. Neben dem obligatorischen Fleischer, der Apotheke und einem Zeitungsladen findet sich hier auch ein Sozialladen der Arbeiterwohlfahrt. »Groß Klein hat einen überdurchschnittlich hohen Anteil von hilfebedürftigen Personen, da es hier vergleichsweise günstige Mieten gibt«, weiß Rostocks Sozialsenator Steffen Bockhahn (LINKE). Die Mieten in Rostock zählen zu den höchsten in ganz Ostdeutschland und so konzentriert sich die Armut hier. Bockhahn verweist auf die Richtlinie zur »Angemessenheit der Kosten der Unterkunft«, die festlege, wie hoch die Mieten für Hartz-IV-Bezieher sein dürfen. »In Rostock sind das 5,71 Euro netto kalt pro Quadratmeter. Zu diesem Preis finden Sie hier nicht mehr viele Wohnungen«, sagt Bockhahn. Die Folge dieser administrativen Vorgaben: Arbeitslose, Flüchtlinge und Geringverdiener drängt man in Viertel wie Groß Klein. So schafft man soziale Brennpunkte.
Zwei Kennzahlen belegen, wie sehr die Konzentrationsprozesse schon fortgeschritten sind: Die Pro-KopfAusgaben nach dem Sozialgesetzbuch 12, das unter anderem die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung regelt, betragen im Rostocker Durchschnitt 298 Euro – in Groß Klein aber 886 Euro. Die Hilfen zur Erziehung liegen in der Hansestadt bei 176 Euro pro Kopf – in Groß Klein sind es 372 Euro.
Rund um das »Klenow-Tor« sieht man Groß Klein die Armut noch nicht an. Die Blumenrabatten und der Spielplatz wirken gepflegt. Zudem erweist sich hier, dass der einst als Nazi-Viertel verschriene Ortsteil ziemlich bunt geworden ist. Es wird viel Russisch gesprochen. Ein indischstämmiger Mann ist auf dem Weg zur Universität in der Innenstadt. Die niedrigen Mieten locken auch Studenten an. Drei afghanische Frauen ordnen ihre Einkäufe, zwei Jungen mit Migrationshintergrund sitzen auf einer Bank und unterhalten sich in einer fremden Sprache. Ob Paschtu, Farsi oder Urdu, ist nicht zu ermitteln. Eine national befreite Zone sieht anders aus. Auch für Geflüchtete ist Groß Klein ein erster Anlaufpunkt. Offiziell liegt der Ausländeranteil hier bei sechs Prozent und damit deutlich über dem Durchschnitt.
Das gefällt einigen im Stadtteil überhaupt nicht. Vor ein paar Wochen geriet Groß Klein in die Schlagzeilen, weil sich hier Neonazis und Trunkenbolde vor einem Treffpunkt für unbegleitete Flüchtlinge zusam- menrotteten, um gegen »Belästigungen« und »Pöbeleien« durch Flüchtlinge zu protestieren. Pogromstimmung lag in der Luft. Manche fürchteten ein neues Lichtenhagen. Das zu trauriger Berühmtheit gelangte Sonnenblumenhaus, vor dem der ausländerfeindliche Mob 1992 randalierte, liegt in Sichtweite hinter den SBahn-Gleisen, die Groß Klein von Lichtenhagen trennen.
In einer Lageeinschätzung der Polizei Ende Juli war von einer »großen Gefährdung« für die unbegleiteten Flüchtlinge die Rede. Der zuständige Sozialsenator Bockhahn sah sich gezwungen, die Geflüchteten in ande- ren Stadtteilen unterzubringen. Eigentlich sollten sie in gemischten Wohngruppen mit einheimischen Jugendlichen leben und so schneller an das Leben in Deutschland herangeführt werden. Die Pläne seien »bis auf Weiteres« auf Eis gelegt, aber keinesfalls aufgegeben, sagt Bockhahn. Aufgegeben wurde aber der Plan, ein Familienzentrum für Geflüchtete in einer ehemaligen Kita einzurichten.
»Rostock knickt vor Rechten ein« und »Sieg für Rechtsextreme«, titelten die Zeitungen. Doch ist Groß Klein wirklich so braun?
»Die Anzahl der fremdenfeindlichen Übergriffe ist nicht höher als im Rest der Stadt«, weiß man bei LOBBI, dem Beratungsverein für Opfer rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern. Das Problem in Groß Klein seien aber die gut organisierten Rechten wie die »Patrioten Deutschland« oder die NPD-nahe Facebook-Gruppe »Infoflut«, die Stimmung machten gegen die unbegleiteten Flüchtlinge. »Leider wohnen etliche der zentralen Akteure in Groß Klein.« Das zeigte sich auch auf einer Sitzung des Ortsbeirats am 20. Juli, die so massiv von Rechtsradikalen gestört wurde, dass man schließlich Polizeischutz anfordern musste.
Dass Geflüchtete und Rechtsradi- kale hier Nachbarn sind, macht die Situation so gefährlich. Die Flüchtlinge, die vorerst auf andere Viertel aufgeteilt wurden, lebten in Groß Klein in dezentralen Wohngruppen. Das »Teilhabezentrum« am Schiffbauerring fungierte als Treffpunkt für die jungen Leute. Hier rottete sich auch der ausländerfeindliche Mob zusammen.
An diesem Mittwoch ist im Jugendclub nicht viel los. Die anwesende Sozialarbeiterin gibt sich reserviert. »Die Chefin ist im Urlaub. Wir geben keine Interviews und auch keine Informationen raus.« Die Begegnungsstätte ist in einem Komplex untergebracht, der schon bessere Zeiten gesehen haben mag. Über einem leerstehenden Geschäft findet sich noch der Schriftzug der Drogeriekette »Schlecker«, die vor mehr als vier Jahren Pleite machte. Rechts daneben ein Imbiss. Im Halbdunkel des Ladens sitzen bereits am frühen Mittag Männer vor ihrem Bier.
Ein paar Meter weiter steht Frau Huang vor ihrem Gemischtwarenladen und hat »nix gesehen«. Ob es hier viele Nazis gibt? »Nein, Nazis nicht, aber Leute sind sehr arm«, betont die Vietnamesin. Wenn etwas kaputt geht, was bei den Billig-Produkten, die hier angeboten werden, nicht ganz unwahrscheinlich ist, dann würden viele laut und sie beschimpfen, so Frau Huang.
Nebenan wirbt ein Döner in den Farben Kurdistans um Kunden. Inhaber Nazmir Özdemir stammt aus der Kurden-Metropole Diyabakir und lebt seit vielen Jahren in Groß Klein. Özdemir ist keiner, der sich etwas gefallen lässt. Er wird auch mal robust, wenn ihn jemand als »Scheiß Ausländer« beschimpft. Klar gebe es Nazis hier, aber nicht sehr viele, meint Özdemir, der einiges von dem mitbekam, was sich vorm benachbarten Begegnungszentrum abspielte, auch weil sich die Kids bei ihm ihre Döner holten.
»Das waren sicher keine Engel«, meint er mit Blick auf die unbegleiteten Flüchtlinge. Die Polizei meldete zwei Vorfälle, in die jugendliche Flüchtlinge involviert waren. In einem Fall soll ein 14-Jähriger eine Frau getreten haben. Im zweiten Fall gaben zwei Mädchen an, von Afghanen belästigt worden zu sein. Der eigentliche Auslöser jedoch, der zur Eskalation führte, habe sich anders abgespielt als von den Rechten verbreitet, so Özdemir. Ein »Ali« soll ein Mädchen begrapscht und bedrängt haben, woraufhin eine Gruppe von »Freunden« der Bedrängten die Begegnungsstätte stürmen wollte. Das Mädchen aber sei Teil der gemischten Gruppe gewesen, die dort im betreut worden sei. Sie sei mit einem der Afghanen zusammen gewesen. Als dieser Schluss machte, sei die Sache eskaliert. Die Rechten nahmen den Fall dankbar auf und entfesselten über Facebook eine Kampagne. Das erzählt der Imbissbesitzer, während er an seinem Kaffee nippt. Ob er Angst habe, selbst ins Fadenkreuz zu geraten? »Nein, eigentlich ist es ganz ruhig hier in Groß Klein«, sagt er und wendet sich seinen Kunden zu.
Groß Klein ist exemplarisch für viele Großsiedlungen im Osten, in denen nun Flüchtlinge, Prekarisierte und Rechte als Nachbarn leben. Die Geflüchteten treffen hier auf Einwohner, die das Gefühl haben, zu den Verlierern zu gehören und von etablierten Parteien nichts mehr erwarten. Das ist in Groß Klein nicht anders als in Leipzig-Grünau oder Halle-Neustadt.
Draußen auf der Straße sind nur Plakate von NPD und AfD zu sehen. Die anderen Parteien waren hier offenbar noch nicht. Auch das ist ein deutlicher Unterschied zur Rostocker Innenstadt, wo ein NPD-Plakat nicht lange hängt. Am 4. September sind hier in Mecklenburg-Vorpommern Landtagswahlen. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Alternative für Deutschland stärkste Kraft im Nordosten wird. Derzeit liegen die Rechtspopulisten in Umfragen bei 20 Prozent und damit knapp hinter SPD und CDU. Sollte die Wählerstruktur der AfD ähnlich sein wie die in SachsenAnhalt, wo man hinter der CDU auf Platz zwei landete, dann dürfte die Partei von Spitzenkandidat Leif-Erik Holm hier in Groß Klein ein überdurchschnittlich gutes Ergebnis erzielen.
Groß Klein ist exemplarisch für viele Großsiedlungen im Osten, in denen nun Flüchtlinge, Prekarisierte und Rechte als Nachbarn leben. Die Geflüchteten treffen hier auf Einwohner, die das Gefühl haben, zu den Verlierern zu gehören und von etablierten Parteien nichts mehr erwarten.