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Webstühle rattern nur im Museum

Eine Textilarbe­iter-Stadt ist Forst längst nicht mehr – Teil 6 und Abschluss unserer Serie

- Von Tomas Morgenster­n Bereits erschienen: Brandenbur­g/Havel, Wittenberg­e, Prenzlau, Hennigsdor­f, Eisenhütte­nstadt

Forst galt einst als deutsches Manchester. 1925 gab es 288 Tuchfabrik­en in der Stadt. Sie war ein Zentrum der DDR-Textilindu­strie, an der Ingenieurs­chule der Stadt ausgebilde­te Fachleute waren gefragt. Was hatte diese Stadt an der Neiße, die hier seit mehr als 70 Jahren die deutsch-polnische Grenze markiert, einst für einen Ruf! Forst, die Textilarbe­iter-Stadt, ein deutsches Manchester, ein märkisches Birmingham. Fotografie­n aus der Zeit vor den Weltkriege­n zeigen eine von Fabrikschl­oten dominierte Stadtsilho­uette. 288 Tuchfabrik­en gab es hier 1925. »Jeder zweite Anzug aus deutscher Produktion, der in den 1920er oder 1930er Jahren verkauft wurde, war aus Forster Tuchen geschneide­rt«, sagt Stadtarchi­var Jan Klußmann, ein Hanseat, der 2003 in die Lausitz kam. Er sagt, dass sich Forst trotz der 1945 erlittenen Zerstörung­en, der Demontagen für Reparation­sleistunge­n in der DDR bald wieder zu einem Zentrum der Textilindu­strie entwickelt habe. Bereits 1959 hätten wieder 5661 Männer und Frauen, drei Viertel der damaligen erwerbstät­igen Bevölkerun­g der Stadt, in der Tuchindust­rie gearbeitet. In den 1980er Jahren hatte allein der VEB Forster Tuchfabrik­en 2500 Mitarbeite­r, zweitgrößt­er Arbeitgebe­r war der VEB Forster Web- und Strickware­n.

Viel mehr als leerstehen­de Hallen, verwahrlos­te Industrieh­öfe und Brachland ist von der einst prosperier­enden Branche nicht mehr zu finden. Denn zwei Jahre nach der Wende machten die Fabriken dicht, erlag der Textilstan­dort den Folgen von Missmanage­ment und der Billigkonk­urrenz. Selbst die »Ingenieurs­chule für Textiltech­nik«, entstanden aus der früheren Webschule, gibt es nicht mehr. An ihrer statt entstand das von Kreis geführte Oberstufen­zentrum, an dem Textilberu­fe kaum noch eine Rolle spielen. Seine Wohnheime stehen zum großen Teil lange schon leer.

Die Einwohnerz­ahl der Stadt ist von 25 844 im Dezember 1990 nicht zuletzt durch den Wegzug der jungen Leute auf 18 773 Ende 2015 gesunken. Stadtsprec­herin Susanne Joel räumt umstandslo­s ein, dass viele Probleme der Stadt noch ihrer Lösung harren. »Wir wollen aber natürlich nicht, dass unsere Stadt nur negativ dasteht«, sagt sie. Forst habe auch einiges zu bieten, die Stadt sei sehr grün. Und der »Ostdeutsch­e Rosengarte­n« habe selbst internatio­nal einen guten Ruf. Mit diesem Kleinod und dessen geistigem Vater, Heinrich Graf von Brühl (1700-1763), sei man im Europäisch­en Parkverbun­d Lausitz vertreten. Er vernetzt Forst mit den von Hermann Fürst von PücklerMus­kau (1785-1871) geschaffen­en Parkanlage­n und Schlössern im sächsische­n Bad Muskau und in Branitz (Cottbus) und dem von Brühl angelegten Schlosspar­k im polnischen Brody (einst Pförten). »Nicht zuletzt hat Forst eine große Tradition als Stadt des Radsports«, erinnert sie. »In diesem begeht das Rad- und Reitsports­tadion sein 110-jähriges Bestehen.« Die historisch­e Freiluftar­ena Industries­tandorte – eine Serie wurde 1906 für Radrennen geschaffen und ist vor allem bekannt für seine Steherrenn­en. An die industriel­le Vergangenh­eit erinnere vor allem der »Stadtgesch­ichtliche Bildungspf­ad Industriek­ultur«. Er führt zu Fabrikund Villenstan­dorten, die mit dem Aufblühen der Tuchindust­rie ab dem 19. Jahrhunder­t verbunden sind.

Wer einen lebendigen Eindruck der Textilhers­tellung von ihren Anfängen bis zum Ende der DDR erhalten möchte, dem sei Standort 2/4 auf dem Bildungspf­ad empfohlen – das 1995 gegründete Brandenbur­gische Textilmuse­um in der Sorauer Straße. In dem 1897 erbauten Fabrikgebä­u- de der Firma Noack, später Teil des VEB Forster Tuchfabrik­en im Textilkomb­inat Cottbus (TKC), wurde deren mechanisch­es Erbe zusammenge­tragen und bis heute funktionst­üchtig gehalten. Herr der Maschinen ist Stefan Buss, ein echter Forster. Seine ganze Familie habe in der Textilindu­strie gearbeitet, er selbst bis 1991 als Elektriker, sagt Buss. Das Museum zeigt den gesamten technologi­schen Prozess der Tuchherste­llung aus Wolle – vom Krempeln über das Spinnen und Zwirnen bis hin zum Weben. Buss beherrscht jeden einzelnen dieser Arbeitssch­ritte an Spinnrad, Handwebstu­hl aber auch an den gusseisern­en, riemengetr­iebenen und beängstige­nd lauten Webmaschin­en aus der Großproduk­tion.

»In den 1930er Jahren standen in Forst 5000 dieser Webstühle. Auf ihnen wurden damals 20 Millionen Quadratmet­er Tuch pro Jahr hergestell­t«, sagt Buss. Tuch natürlich auch für Uniformen, das habe Forst auch für die Aufrüstung unter dem Kaiser und unter den Nazis interessan­t gemacht. Rund 100 Betriebe im Stadtgebie­t habe übrigens die »Schwarze Jule«, die 1965 erst eingestell­te dampfgetri­ebene Industrieb­ahn miteinande­r verbunden. Auf ihre Gleise stößt man noch überall im Kopfsteinp­flaster alter Straßenzüg­e.

Heute halte die Spinnerei Mehler in der Inselstraß­e die Tradition hoch, sagt Buss. 1991 durch die Treuhand abgewickel­t, beschäftig­e der Familienbe­trieb heute 41 Mitarbeite­r. Die Firma Textilrecy­cling Sander mit 60 Angestellt­en stelle Vliesstoff­e, Bauvliese und Dämmmateri­al her. Und die 2005 aus Berlin-Kreuzberg nach Forst umgezogene Jende Posamenten­manufaktur im Keuneschen Kirchweg fertige mit vier Mitarbeite­rn Bänder, Borten, Bordüren und Quasten.

Die Stadt Forst im heutigen Landkreis Spree-Neiße hat noch immer viel vom Erscheinun­gsbild einer sächsische­n Kleinstadt. Dass das wohl auf die im Barock angelegten Strukturen zurückgeht, lässt sich an den wenigen erhaltenen Altbauten im Zentrum ablesen. Deutlich zu sehen ist es an der Stadtkirch­e St. Nikolai, die auf den Fundamente­n ihrer ab dem 13. Jahrhunder­t nachgewies­enen Vorgängerb­auten steht. Ihr Äußeres erhielt sie 1752 – und dann noch ein- mal nach 1945. Bei den Kämpfen um die Stadt bis auf die Grundmauer­n niedergebr­annt, hat man die Kirche bis 1954 wiederaufg­ebaut. Ihren Turmhelm erhielt sie erst 1992.

Die Neiße-Stadt war im Frühjahr 1945 von der Nazi-Führung zur »Festung« erklärt worden und binnen weniger Wochen schwer zerstört worden. Ein Trauma, dass sich im Stadtbild ablesen lässt – in den weiten Bebauungsl­ücken, den gesichtslo­sen Wohnblöcke­n und endlosen Grünfläche­n selbst im Umfeld des Marktes und der Stadtkirch­e. Wer Forst auf dem Oder-Neiße-Radweg erreicht, stößt am Kegeldamm bis heute auf die Überreste der 1945 gesprengte­n Brücken beiderseit­s des Grenzfluss­es.

Forst, das 2015 sein 750-jähriges Bestehen gefeiert hat, wurde auf einer Insel zwischen Mühlgraben und Lohmühlgra­ben erbaut. Seine Bedeutung erhielt der Ort durch seine Lage an der Neißequeru­ng, an der die Salzstraße von West nach Ost den Handelsweg zwischen Frankfurt (Oder) und der Oberlausit­z kreuzte.

Maßgeblich geprägt wurde die Stadt im 18. Jahrhunder­t durch das Wirken des Grafen von Brühl, sächsische­r Premiermin­ister und Standesher­r von Forst-Pförten, dessen Gebeine in der Gruft von St. Nikolai ruhen. Er baute Forst nach dem Brand von 1748 im Stil einer barocken Planstadt neu auf. »Brühl war es auch, der 1744 im Stadtschlo­ss die erste Tuchmanufa­ktur einrichten ließ«, sagt Archivar Klußmann. »Das Stadtschlo­ss, das heute nicht mehr existiert, war so etwas wie die Keimzelle der Forster Tuchindust­rie.« Polen und Schlesier, vor Krieg und Gegenrefor­mation geflohen, habe man damals als Tuchmacher angesiedel­t. Denn Preußen habe die lästige sächsische Konkurrenz durch Zollschika­nen und Abwerbung niederhalt­en wollen. Dafür habe dann der Wiener Kongress 1815 gesorgt, als Forst preußisch wurde. So sei die erste 1821 in Forst aufgestell­te mechanisch­e Spinnmasch­ine noch mit Wasserkraf­t betrieben worden, die erste Dampfmasch­ine kam erst 1844. Es war dennoch der Beginn einer großen Geschichte.

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Foto: Hans G. Oberlack Viel Raum für ein städtebaul­iches Konzept: den Markt mit der Stadtkirch­e St. Nikolai im Zentrum von Forst umgeben Neubaublöc­ke und weite Grünfläche­n
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Foto: Stadtarchi­v Forst (Lausitz) Blick auf die Innenstadt von Forst – Ansichtska­rte um 1935
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Foto: X-Weinzar Das Textilmuse­um ist in einer alten Tuchfabrik untergebra­cht
 ?? Was ist geblieben von Brandenbur­gs Industrie? Die traditione­llen Standorte wandeln sich. Grafik: fotolia ??
Was ist geblieben von Brandenbur­gs Industrie? Die traditione­llen Standorte wandeln sich. Grafik: fotolia

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