Webstühle rattern nur im Museum
Eine Textilarbeiter-Stadt ist Forst längst nicht mehr – Teil 6 und Abschluss unserer Serie
Forst galt einst als deutsches Manchester. 1925 gab es 288 Tuchfabriken in der Stadt. Sie war ein Zentrum der DDR-Textilindustrie, an der Ingenieurschule der Stadt ausgebildete Fachleute waren gefragt. Was hatte diese Stadt an der Neiße, die hier seit mehr als 70 Jahren die deutsch-polnische Grenze markiert, einst für einen Ruf! Forst, die Textilarbeiter-Stadt, ein deutsches Manchester, ein märkisches Birmingham. Fotografien aus der Zeit vor den Weltkriegen zeigen eine von Fabrikschloten dominierte Stadtsilhouette. 288 Tuchfabriken gab es hier 1925. »Jeder zweite Anzug aus deutscher Produktion, der in den 1920er oder 1930er Jahren verkauft wurde, war aus Forster Tuchen geschneidert«, sagt Stadtarchivar Jan Klußmann, ein Hanseat, der 2003 in die Lausitz kam. Er sagt, dass sich Forst trotz der 1945 erlittenen Zerstörungen, der Demontagen für Reparationsleistungen in der DDR bald wieder zu einem Zentrum der Textilindustrie entwickelt habe. Bereits 1959 hätten wieder 5661 Männer und Frauen, drei Viertel der damaligen erwerbstätigen Bevölkerung der Stadt, in der Tuchindustrie gearbeitet. In den 1980er Jahren hatte allein der VEB Forster Tuchfabriken 2500 Mitarbeiter, zweitgrößter Arbeitgeber war der VEB Forster Web- und Strickwaren.
Viel mehr als leerstehende Hallen, verwahrloste Industriehöfe und Brachland ist von der einst prosperierenden Branche nicht mehr zu finden. Denn zwei Jahre nach der Wende machten die Fabriken dicht, erlag der Textilstandort den Folgen von Missmanagement und der Billigkonkurrenz. Selbst die »Ingenieurschule für Textiltechnik«, entstanden aus der früheren Webschule, gibt es nicht mehr. An ihrer statt entstand das von Kreis geführte Oberstufenzentrum, an dem Textilberufe kaum noch eine Rolle spielen. Seine Wohnheime stehen zum großen Teil lange schon leer.
Die Einwohnerzahl der Stadt ist von 25 844 im Dezember 1990 nicht zuletzt durch den Wegzug der jungen Leute auf 18 773 Ende 2015 gesunken. Stadtsprecherin Susanne Joel räumt umstandslos ein, dass viele Probleme der Stadt noch ihrer Lösung harren. »Wir wollen aber natürlich nicht, dass unsere Stadt nur negativ dasteht«, sagt sie. Forst habe auch einiges zu bieten, die Stadt sei sehr grün. Und der »Ostdeutsche Rosengarten« habe selbst international einen guten Ruf. Mit diesem Kleinod und dessen geistigem Vater, Heinrich Graf von Brühl (1700-1763), sei man im Europäischen Parkverbund Lausitz vertreten. Er vernetzt Forst mit den von Hermann Fürst von PücklerMuskau (1785-1871) geschaffenen Parkanlagen und Schlössern im sächsischen Bad Muskau und in Branitz (Cottbus) und dem von Brühl angelegten Schlosspark im polnischen Brody (einst Pförten). »Nicht zuletzt hat Forst eine große Tradition als Stadt des Radsports«, erinnert sie. »In diesem begeht das Rad- und Reitsportstadion sein 110-jähriges Bestehen.« Die historische Freiluftarena Industriestandorte – eine Serie wurde 1906 für Radrennen geschaffen und ist vor allem bekannt für seine Steherrennen. An die industrielle Vergangenheit erinnere vor allem der »Stadtgeschichtliche Bildungspfad Industriekultur«. Er führt zu Fabrikund Villenstandorten, die mit dem Aufblühen der Tuchindustrie ab dem 19. Jahrhundert verbunden sind.
Wer einen lebendigen Eindruck der Textilherstellung von ihren Anfängen bis zum Ende der DDR erhalten möchte, dem sei Standort 2/4 auf dem Bildungspfad empfohlen – das 1995 gegründete Brandenburgische Textilmuseum in der Sorauer Straße. In dem 1897 erbauten Fabrikgebäu- de der Firma Noack, später Teil des VEB Forster Tuchfabriken im Textilkombinat Cottbus (TKC), wurde deren mechanisches Erbe zusammengetragen und bis heute funktionstüchtig gehalten. Herr der Maschinen ist Stefan Buss, ein echter Forster. Seine ganze Familie habe in der Textilindustrie gearbeitet, er selbst bis 1991 als Elektriker, sagt Buss. Das Museum zeigt den gesamten technologischen Prozess der Tuchherstellung aus Wolle – vom Krempeln über das Spinnen und Zwirnen bis hin zum Weben. Buss beherrscht jeden einzelnen dieser Arbeitsschritte an Spinnrad, Handwebstuhl aber auch an den gusseisernen, riemengetriebenen und beängstigend lauten Webmaschinen aus der Großproduktion.
»In den 1930er Jahren standen in Forst 5000 dieser Webstühle. Auf ihnen wurden damals 20 Millionen Quadratmeter Tuch pro Jahr hergestellt«, sagt Buss. Tuch natürlich auch für Uniformen, das habe Forst auch für die Aufrüstung unter dem Kaiser und unter den Nazis interessant gemacht. Rund 100 Betriebe im Stadtgebiet habe übrigens die »Schwarze Jule«, die 1965 erst eingestellte dampfgetriebene Industriebahn miteinander verbunden. Auf ihre Gleise stößt man noch überall im Kopfsteinpflaster alter Straßenzüge.
Heute halte die Spinnerei Mehler in der Inselstraße die Tradition hoch, sagt Buss. 1991 durch die Treuhand abgewickelt, beschäftige der Familienbetrieb heute 41 Mitarbeiter. Die Firma Textilrecycling Sander mit 60 Angestellten stelle Vliesstoffe, Bauvliese und Dämmmaterial her. Und die 2005 aus Berlin-Kreuzberg nach Forst umgezogene Jende Posamentenmanufaktur im Keuneschen Kirchweg fertige mit vier Mitarbeitern Bänder, Borten, Bordüren und Quasten.
Die Stadt Forst im heutigen Landkreis Spree-Neiße hat noch immer viel vom Erscheinungsbild einer sächsischen Kleinstadt. Dass das wohl auf die im Barock angelegten Strukturen zurückgeht, lässt sich an den wenigen erhaltenen Altbauten im Zentrum ablesen. Deutlich zu sehen ist es an der Stadtkirche St. Nikolai, die auf den Fundamenten ihrer ab dem 13. Jahrhundert nachgewiesenen Vorgängerbauten steht. Ihr Äußeres erhielt sie 1752 – und dann noch ein- mal nach 1945. Bei den Kämpfen um die Stadt bis auf die Grundmauern niedergebrannt, hat man die Kirche bis 1954 wiederaufgebaut. Ihren Turmhelm erhielt sie erst 1992.
Die Neiße-Stadt war im Frühjahr 1945 von der Nazi-Führung zur »Festung« erklärt worden und binnen weniger Wochen schwer zerstört worden. Ein Trauma, dass sich im Stadtbild ablesen lässt – in den weiten Bebauungslücken, den gesichtslosen Wohnblöcken und endlosen Grünflächen selbst im Umfeld des Marktes und der Stadtkirche. Wer Forst auf dem Oder-Neiße-Radweg erreicht, stößt am Kegeldamm bis heute auf die Überreste der 1945 gesprengten Brücken beiderseits des Grenzflusses.
Forst, das 2015 sein 750-jähriges Bestehen gefeiert hat, wurde auf einer Insel zwischen Mühlgraben und Lohmühlgraben erbaut. Seine Bedeutung erhielt der Ort durch seine Lage an der Neißequerung, an der die Salzstraße von West nach Ost den Handelsweg zwischen Frankfurt (Oder) und der Oberlausitz kreuzte.
Maßgeblich geprägt wurde die Stadt im 18. Jahrhundert durch das Wirken des Grafen von Brühl, sächsischer Premierminister und Standesherr von Forst-Pförten, dessen Gebeine in der Gruft von St. Nikolai ruhen. Er baute Forst nach dem Brand von 1748 im Stil einer barocken Planstadt neu auf. »Brühl war es auch, der 1744 im Stadtschloss die erste Tuchmanufaktur einrichten ließ«, sagt Archivar Klußmann. »Das Stadtschloss, das heute nicht mehr existiert, war so etwas wie die Keimzelle der Forster Tuchindustrie.« Polen und Schlesier, vor Krieg und Gegenreformation geflohen, habe man damals als Tuchmacher angesiedelt. Denn Preußen habe die lästige sächsische Konkurrenz durch Zollschikanen und Abwerbung niederhalten wollen. Dafür habe dann der Wiener Kongress 1815 gesorgt, als Forst preußisch wurde. So sei die erste 1821 in Forst aufgestellte mechanische Spinnmaschine noch mit Wasserkraft betrieben worden, die erste Dampfmaschine kam erst 1844. Es war dennoch der Beginn einer großen Geschichte.