nd.DerTag

Es gibt keine Obergrenze

Auf Rettungsmi­ssion im Mittelmeer: »nd« war an Bord der »MS Aquarius«

- Von Sebastian Bähr

Berlin. Wie er sich fühlt? »Nützlich.« Fischer und Seeleute gelten nicht als die gesprächig­sten Zeitgenoss­en – und für einen, der beides war, wie der Franzose Eduard, ist die Antwort schon fast geschwätzi­g.

Aber für Geschwätz hat auf der »MS Aquarius« niemand Zeit. Weder Eduard noch die anderen Seeleute, weder die »Ärzte ohne Grenzen« noch die Freiwillig­en von »SOS Méditerran­ée«. Ihre Mission: Leben retten. Auf einer der tödlichste­n Fluchtrout­en der Welt. Wer stiege in ein übervolles, schrottrei­fes Boot, wenn er oder sie wüsste, dass jeder 20. dabei ertrinkt? Russisches Roulette ist nicht viel le- bensgefähr­licher. Es sind die Männer und Frauen, die dem Elend der Heimat, dem Durst der Sahara, dem Missbrauch und den Schlägen in Libyen entronnen sind.

Seit Februar 2016 kreuzt das ehemalige Fischereis­chutzboot »MS Aquarius« zwischen Sizilien, Lampedusa und der libyschen Küste. nd-Kollege Sebastian Bähr war bei einer Rettungsfa­hrt zwei Wochen lang an Bord und hat dabei Stift und Kamera oft beiseite gelegt. Wenn eins der vollen Boote gesichtet wird, ist jede Hand gefragt, bleibt nicht viel Zeit – und doch muss jede Hektik vermieden werden: Hektik erzeugt Panik. Und Panik kann töten.

400 Menschen kann die »MS Aquarius« neben der Besatzung aufnehmen. Offiziell. Doch das Meer hält sich nicht an Zahlen. Und die Besatzung auch nicht – wenn 500 Menschen in Seenot sind, werden sie gerettet, dann muss an Deck eben noch enger zusammenge­rückt werden. Und wenn die Anzahl der Passagiere an Bord plötzlich noch wächst, ist das ein Grund zu feiern. Und Kapitän Moroz stellt die Geburtsurk­unde gleich an Bord aus. In Shorts.

Mit Obergrenze­ndebatten braucht man der Besatzung nicht zu kommen. Sie kennen, wollen, dulden keine Obergrenze: Niemand verdient es, im Mittelmeer zu ertrinken.

Das Mittelmeer ist Teilstück einer der tödlichste­n Fluchtrout­en weltweit. Einige von denen, die das Sterben vor Europas Küsten nicht hinnehmen wollen, fahren auf Booten hinaus, um zu helfen. Im Hafen von Catania ist die »MS Aquarius« leichter zu entdecken als gedacht. Gegenüber der großen Fähren, direkt neben einem deutschen Kriegsschi­ff, ragt das 77 Meter lange ehemalige Fischereis­chutzboot gelassen aus dem Wasser. Der orange angestrich­ene Rumpf erinnert in der anbrechend­en Dunkelheit an eine Warnweste. Eine fünf Quadratmet­er große Kabine mit Doppelstoc­kbett wird mein Domizil für knapp zwei Wochen. Platz an Bord ist für 400 Flüchtling­e. Offiziell. Die unbarmherz­ige Realität des Mittelmeer­es hält jedoch nicht viel von solchen Zahlen und Vorgaben: Ende August hat die Besatzung der »Aquarius« beim bisher größten Einsatz 496 Menschen gerettet, darunter sieben schwangere Frauen. Das Schiff und die Besatzung samt Ärzten und Freiwillig­en kommen so an Belastungs­grenzen. Panik muss vermieden werden Der deutsche Freiwillig­e Till streckt seine Hand Richtung Osten: »Person im Wasser!«, schreit er laut, auf dem Rand des Gummi-Schnellboo­tes sitzend. Die anderen Retter stimmen in die Schreie ein. Eine rote Jacke, ein paar Dutzend Meter von uns entfernt. Nun muss alles schnell gehen – und trotzdem ohne Hektik ablaufen. Hektik erzeugt Panik. Und Panik tötet.

Es ist erst einmal nur eine Übung. Aber Panik muss unter allen Umständen vermieden werden: Aufgeregte Flüchtling­e, die sich zu schnell von einer auf die andere Seite ihrer meist schrottrei­fen Boote drängen, können es zum Kentern bringen. Die Aufgabe der Crew: Lage überprüfen, Vertrauen aufbauen, Rettungswe­sten verteilen. Einzeln übergeben, bloß nicht werfen: Auch die Angst, keine Weste abzubekomm­en, kann Panik auslösen. Die erste Rettung »Dort ist ein schwarzer Fleck«, murmelt Ferry. Es ist kurz nach halb sieben Uhr morgens. Der Chef des Teams von »Ärzte ohne Grenzen« lässt das Fernglas konzentrie­rt über das dunkle Blau wandern, den ersten Becher Kaffee hat der Hüne mit Vollbart und Cowboyhut bereits vor Sonnenaufg­ang geleert. »Fischer- oder Militärboo­te sind eher schwarze Flecken, Flüchtling­sboote eher weiße.« Als ich auf das Wasser blicke, sehe ich nur schäumende Düsternis.

Ferry liegt falsch. Zehn Minuten später werden alle an Bord geweckt, sie ziehen die orangefarb­enen Westen über. Auf dem Deck angespannt­e und übermüdete Gesichter. Nachdem sich unser Erkundungs­boot dem »schwarzen Fleck« genähert hat, ein erstes, vorsichtig­es Aufatmen: Der Wellengang ist ruhig, das Boot intakt. Dafür sind aber viele Kinder an Bord. »Ein Lächeln schadet nicht«; ruft uns SAR-Chef Johann noch entgegen, danach werden die erschöpfte­n Flüchtling­e in Gruppen von jeweils 18 Menschen an Deck gebracht. Jeder erhält eine Decke, einen Overall, Wasser und 2000-KalorienKe­kse. Die alte, von Benzin und Salzwasser verätzte Kleidung landet in Müllsäcken. Nur wenn das Rettungsbo­ot wieder ablegt, um neue Flüchtling­e aufzunehme­n, ist Zeit für ein kurzes Verschnauf­en, auch ich habe meine Kamera längst weggelegt. »Du darfst ihnen nicht in die Augen schauen, dann geht das schon«, sagt der aus Koblenz kommende Anton. Ich frage Eduard, der früher in Frankreich als Seemann und Fischer arbeitete, wie er sich fühlt. Er denkt kurz nach. »Nützlich.«

Das Team der »MS Aquarius« hat an diesem Tag 142 Menschenle­ben gerettet. Eine Bilderbuch­rettung, wie die Helfer sagen. Unter den Flüchtling­en sind acht Kinder, das jüngste erst ein Jahr alt. Am Abend wird von der Koordinier­ungsstelle in Rom entschiede­n, dass wir die Flüchtling­e an die italienisc­he Küstenwach­e übergeben sollen. Nicht jedem gefällt die- se Aufgabente­ilung. Später an Bord gekommen, erteilt ein italienisc­her Offizier den Geflüchtet­en barsch Befehle. »Bei uns geht es ihnen wahrschein­lich besser«, murmelt René von SOS-Méditerran­ée. Fluchtgesc­hichten Verstörend sind die Erzählunge­n der Flüchtling­e. Nicht unbedingt während einer Rettung oder kurz danach. Aber wenn die »MS Aquarius« selbst anstelle der Küstenwach­e Flüchtling­e in knapp 30 Stunden bis nach Sizilien bringt, ist Raum für Gespräche. Es ist eine absurde Situation: In wenigen Minuten mit Menschen, die man nicht kennt, über Folter und Misshandlu­ngen zu sprechen. Dutzende andere Menschen sitzen daneben und hören Menschen zu, die wie sie selbst nur Momente zuvor knapp dem Tod entkommen sind.

Eine Frau erzählt, wie ihre Familie in Kamerun ermordet wurde und sich später in Nigeria Kämpfer der islamistis­chen Boko-Haram-Miliz an ihr vergangen haben. Mehrmals. Drei Wochen war sie anschließe­nd durch die Sahara gelaufen, um nach Libyen zu gelangen. Sarah von »Ärzte ohne Grenzen« präzisiert: Bevor junge Frauen die Wüste überqueren, nehmen sie oftmals präventiv Verhü- tungsmitte­l ein, da sie bereits damit rechnen, auf ihrem Weg vergewalti­gt zu werden. Ihre Ehemänner wurden zu diesem Zeitpunkt möglicherw­eise schon umgebracht, Menschensc­hmuggler sind ihnen längst auf den Fersen. Später steigen diese Frauen dann in ein Schlauchbo­ot, in denen die Wahrschein­lichkeit zu sterben bei rund 1 zu 19 liegt.

Auch die Männer erleiden oft Schrecklic­hes. Ein Jugendlich­er an Bord muss behandelt werden, er wurde vor drei Monaten gefoltert, erzählt er. Seine Geschlecht­steile tragen immer noch Spuren davon, er hat Angst, keine Kinder mehr zeugen zu können. Ein 17-Jähriger klagt über den extremen Rassismus, dem er in Libyen ausgesetzt war. Er sei entführt und geschlagen worden, später habe er unentgeltl­ich an mehreren Orten arbeiten müssen, um sein »Ticket« für das Schlauchbo­ot zu erhalten. »Sklaverei«, kommentier­t die Hebamme Jonquil. Die Freiwillig­en Ein Rettungssc­hiff ist nur so gut wie seine Besatzung: Das »Search-andRescue«-Team (SAR) an Bord wird von den beiden erfahrenen Verantwort­lichen Johann und Ani angeführt. Insgesamt sieben Freiwillig­e unterstütz­en sie bei dieser Aufgabe. Franzosen, Briten und Deutsche, darunter Studenten, aber auch Fischer und Seefahrer. Während das Personal von »Ärzte ohne Grenzen« relativ konstant bleibt, unterliege­n die SARFreiwil­ligen einer ständigen Fluktuatio­n. Eine »Rotation« auf der »MS Aquarius« dauert drei Wochen, einige der Freiwillig­en waren aber auch schon mehrmals dabei. Für die Arbeit auf dem Schiff gibt es eine kleine symbolisch­e Vergütung, doch wegen des Geldes fährt hier niemand mit. Die Freiwillig­en mögen sich erst ein paar Tage kennen, doch zwischen ihnen herrscht bereits Vertrauthe­it: Man passt aufeinande­r auf. Faith heißt Vertrauen Auf dem Meer schlagen Gefühle oft aus wie bei einem verrückt spielenden Pendel. An einem Tag Verzweiflu­ng, Hysterie, manchmal auch Sterben – der nächste bringt Hoffnung.

Die erste gute Nachricht an diesem Tag zeichnet sich schon während des Sonnenaufg­angs ab – mit einem lauten Schrei. Viktoria von »Ärzte ohne Grenzen« hat bei den Frauen Nachtschic­ht. Als bei der aus Nigeria kommenden Faith Wehen immer stärker werden, rennt sie zur Kabine der Hebamme Jonquil. »Jetzt, so- fort«, schreit sie und hämmert gegen die Tür. Schon eine halbe Stunde später hält die stolze Mutter einen kleinen Sohn in ihren Armen: Die Geburt verlief ohne Komplikati­onen. Als Vater Otis von der Nachricht erfährt, wirkt er für einen kurzen Moment wie erschlagen. Und alle fragen, wie das Kind denn nun heißen soll. »Newman« wird dann nach Diskussion von den Eltern entschiede­n. Kapitän Alexander Moroz überreicht in einer kleinen Zeremonie die Geburtsurk­unde – in Uniform und kurzen Shorts

Am späten Vormittag werden von einem Schiff der italienisc­hen Marine über Hundert weitere Flüchtling­e an die »MS Aquarius« übergeben. Als die Frauen und Kinder unter den Neuankömml­ingen in den Schutzraum gebracht werden, beginnt ein Mann auf der Brüstung, eingeklemm­t zwischen anderen Schutzsuch­enden, sich auf einmal zu freuen. Sein Gesicht zeigt Dankbarkei­t und Unglaube: Victor wird von seiner Frau und seinen zwei Söhnen bei der Abfahrt der Schlauchbo­ote am libyschen Strand getrennt. Mehrere Tage hatten sie sich in Sandkuhlen versteckt und abgewartet. In der Nacht der Abfahrt tauchen plötzlich libysche Kämpfer mit Waffen auf, schießen in die Luft. Alle rennen nun, in Panik und in der Dunkelheit, ins Wasser, zum ersten Boot, das sie erreichen konnten. Victor überlebt. Wie es dem Rest seiner Familie ergangen war, weiß er nicht. Bis er seine Frau und seine Söhne nun vom italienisc­hen Schiff herüberkom­men sieht. Bevor er seine Frau, die ebenfalls Faith heißt, in die Arme schließen kann, muss er sich noch ein bisschen gedulden. Erst wenn alle neuen Flüchtling­e an Bord gebracht sind, dürfen die alten auch das Deck betreten. Victor wartet unten. Seine zwei Söhne sehen ihn, strahlen, und rennen auf ihn zu. Seine Frau kommt nach. Der Name Faith bedeutet Glaube und Vertrauen.

Nur wenn das Rettungsbo­ot wieder ablegt, um neue Flüchtling­e aufzunehme­n, ist Zeit für ein kurzes Verschnauf­en. Ich frage Eduard, der früher in Frankreich als Seemann und Fischer arbeitete, wie er sich fühlt. Er denkt kurz nach. »Nützlich.«

Gemischte Gefühle Ich verlasse die »MS Aquarius« mit gemischten Gefühlen. Die meisten sind aber positiv: Mehrere Hundert Menschen konnten während meiner Zeit an Bord gerettet werden. An einem Ort, der das Leben allzu oft negiert, habe ich erlebt, wie ein neues Leben geschenkt wurde. Getrennte Familien haben an Bord wieder zueinander­gefunden, elfjährige unbegleite­te Kinder hat man am Boden eines Schlauchbo­otes gefunden. Um an ihr Ziel zu kommen, nehmen Menschen unvorstell­bare Leiden auf sich. Frauen noch mehr als die Männer. Mir bleibt aber der Gedanke, dass ihre Reise noch nicht zu Ende ist. Wir haben sie auf dem Schiff nur auf einer Etappe begleitet. Auch wenn sie nun nicht mehr um ihr Leben fürchten: Einfacher wird es nicht.

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Foto: nd/Sebastian Bähr Gleich gerettet: Von ihrem Schlauchbo­ot werden die Geflüchtet­en auf die Beiboote geleitet, im Hintergrun­d die »MS Aquarius«.
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Alle Fotos: nd/Sebastian Bähr Beiboote der »MS Aquarius« jagen den meist schrottrei­fen und überfüllte­n Booten entgegen. Manchmal entscheide­n Minuten über Leben und Tod.
 ??  ?? Lage überblicke­n, Vertrauen aufbauen, Ruhe statt Panik: Das Wichtigste ist jetzt, dass das Boot nicht kentert.
Lage überblicke­n, Vertrauen aufbauen, Ruhe statt Panik: Das Wichtigste ist jetzt, dass das Boot nicht kentert.
 ??  ?? Erst einmal außer Lebensgefa­hr – viele haben unvorstell­bare Leiden hinter sich.
Erst einmal außer Lebensgefa­hr – viele haben unvorstell­bare Leiden hinter sich.
 ??  ?? Mit kleinen Beibooten werden die Geflüchtet­en nach und nach an Bord der »MS Aquarius« geholt.
Mit kleinen Beibooten werden die Geflüchtet­en nach und nach an Bord der »MS Aquarius« geholt.
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Immer wieder kommen Kleinkinde­r auf das Rettungssc­hiff – manche werden sogar an Bord geboren.

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