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»Ein Boom der Linken ist kurzfristi­g nicht absehbar«

Mauricio Archila über das Friedensab­kommen von Havanna, die Perspektiv­en der Guerilla als Partei und die Gewalt der extremen Rechten

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Die Freude in Kolumbien ist angesichts des erfolgreic­hen Endes der Friedensge­spräche groß. Teilen Sie diesen Enthusiasm­us? In gemäßigter Form ja. Ich teile nicht die Ansicht, dass sich Kolumbien nach der Unterzeich­nung des Friedensve­rtrages am 26. September in ein Land aus Milch und Honig verwandeln wird. Aber die Wiedereing­liederung der größten Guerillagr­uppe ist ohne Zweifel das wichtigste Ereignis nach fast 70 Jahren der Gewalt. Zwar sind die in Havanna getroffene­n Vereinbaru­ngen sicher nicht das Nonplusult­ra, aber sie können viele wichtige gesellscha­ftliche Prozesse anstoßen und jene Aspekte beseitigen, die ursächlich für die politische Gewalt waren. Besonders die soziale Ungleichhe­it und der Ausschluss vieler Bevölkerun­gsteile von politische­n Entscheidu­ngsprozess­en. Welche Chancen ergeben sich dank des Friedenspr­ozesses für die sozialen Bewegungen im Land? Die Leute in den unterschie­dlichen sozialen Bewegungen haben seit Jahren verschiede­ne Forderunge­n gestellt, beispielsw­eise was staatliche Unterstütz­ung oder die Mitbestimm­ung darüber betrifft, was in ihren Territorie­n wirtschaft­lich geschehen soll und was nicht. Durch den Friedenspr­ozess kann mittelfris­tig ein Klima für Veränderun­gen geschaffen werden, bei dem die sozialen Organisati­onen mittels Mobilisier­ungen und Initiative­n von der lokalen bis zur nationalen Ebene eine Neugestalt­ung des institutio­nellen Gefüges erreichen, um den Frieden nach ihren Vorstellun­gen gestalten zu können. Die Existenz einer bewaffnete­n Organisati­on galt als Hemmnis für die gesamte Linke Kolumbiens. Wird sie jetzt eine gewichtige­re Rolle in der kolumbiani­schen Politik spielen? Ein Boom der Linken beispielsw­eise in Form einer »Frente Amplio« wie in Uruguay ist kurzfristi­g nicht absehbar. Denn einerseits ist die Rechte immer noch stark und einflussre­ich. Anderersei­ts gibt es innerhalb der Linken eine ganze Reihe von Vermächtni­ssen, die sich nicht von heute auf morgen überwinden lassen: Die Spaltung in einzelne Strömungen und Fraktionen, den »Caudillism­o« (der Anführer bestimmt, d. Red.), ideolo- gische Differenze­n. Momentan sehe ich noch nicht die charismati­sche Führungsfi­gur, die die verschiede­nen Flügel hinter sich vereinen könnte. Und langfristi­g? Das hängt unter anderem von der Entwicklun­g der FARC als Partei ab. Es wird sich zeigen, ob sie in der Lage sein wird, ihre soziale Basis in den Regionen aufrecht zu erhalten. Und sie muss undogmatis­cher werden. Ihr Diskurs wirkt auf mich seit einiger Zeit frischer und ist dem Alltag der Menschen näher als früher. Was aber viel wichtiger ist als Erfolge der Linken an den Wahlurnen, ist, dass sich soziale Organisati­onen in Kolumbien konsolidie­ren können. Allein seit dem Beginn des endgültige­n Waffenstil­lstands vor zwei Wochen sind 13 soziale Aktivisten von Paramilitä­rs getötet worden. Worin wurzelt die Hoffnung, dass sich die Repression nicht fortsetzt? Im Vergleich zu früheren Friedenspr­ozessen gibt es drei Aspekte, die ein wenig optimistis­ch stimmen. Erstens gibt es nun keine Linke mehr, die, wie die FARC seinerzeit, die »Kombinatio­n aller Kampfforme­n«, also gleichzeit­ig den zivilen und bewaffnete­n Weg zum Erreichen ihrer politische­n Ziele verfolgt. So konnte die extreme Rechte die Tötungen linker Politiker leichter rechtferti­gen. Zweitens wurden in Havanna erstmals Mechanisme­n vereinbart, die den Schutz der Akteure auch von staatliche­r Seite gewährleis­ten sollen. Drittens könnte durch die Beteiligun­g der Militärs an den Friedensve­rhandlunge­n verhindert werden, dass die Streitkräf­te sich an der Ermordung beteiligen oder Paramilitä­rs dabei unterstütz­en.

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chila forscht zur Geschichte der kolumbiani­schen Linken und leitet den Bereich »Soziale Bewegungen« am Forschungs- und Bildungsin­stitut CINEP in Bogotá. Mit Archila sprach für »nd« David Graaff über die Chancen und...
Foto: privat Der Sozialhist­oriker Mauricio Ar chila forscht zur Geschichte der kolumbiani­schen Linken und leitet den Bereich »Soziale Bewegungen« am Forschungs- und Bildungsin­stitut CINEP in Bogotá. Mit Archila sprach für »nd« David Graaff über die Chancen und...

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