Kopf braucht besonderen Schutz
Gehirnerschütterung kann für Kinder, Sportler und ältere Menschen gefährlich werden
Leichte Schädel-Hirn-Traumata bleiben häufig unentdeckt. Doch das kann schwere gesundheitliche Folgen haben, wie Studien zeigen. Geschützt in der Schädelhöhle liegt unser Gehirn, verarbeitet unsere Sinneswahrnehmungen und koordiniert komplexe Verhaltensweisen wie Atmung, Herzkreislauf, Verdauung, ja selbst die Fortpflanzung. Das Gehirn ist so großartig, dass es mittlerweile nachgeahmt wird. So wird in der bionischen Neuroinformatik versucht, seine Architektur bzw. Funktionsweise auf Computern nachzubilden oder sich zu neuen Ideen für eine »intelligente« Informationsverarbeitung inspirieren zu lassen.
Gemessen an seiner Kostbarkeit gehen wir mit diesem Teil unseres Körpers bisweilen sträflich um. Selbst Gehirnerschütterungen erschüttern uns erst, wenn sie mit dem Attribut mittelschwer oder schwer versehen sind. Während letztere in der Regel zumindest erkannt und angemessen behandelt werden, bleibt das sogenannte leichte Schädel-Hirn-Trauma (SHT) häufig unentdeckt. Besonders oft wird es ignoriert, wenn die typischen Beschwerden – Kopfschmerzen, Schwindel, Bewusstlosigkeit oder Übelkeit – nicht gleich nach dem Sturz oder Schlag auftreten oder vom Betroffenen nicht als belastend empfunden werden. Pro Jahr rechnet man auf 100 000 Kinder mit etwa 140 Schädel-Hirn-Traumata. Diese Kinder stehen nach einem Fahrradunfall einfach wieder auf. Besonders Jungen wollen hart im Nehmen sein. Das kaputte Rad erscheint manchen womöglich als das ernstere Problem. Alten Menschen sind Stürze mit dem Rad oder im Haushalt oft peinlich, weshalb sie sie ebenfalls verschweigen. Im Sport wurden sie lange Zeit aus falschem Ehrgeiz ignoriert.
Warum Stürze auf und Schläge gegen den Kopf nicht abgetan werden sollten, wird klar, wenn man sich den Vorgang an einem Beispiel verdeutlicht. Ein Radfahrer muss scharf bremsen, überschlägt sich und fällt dabei mit dem Kopf aufs Pflaster. Eine starke Energie wirkt auf den Helm (so der Fahrer einen trägt). Aber Energie geht nicht verloren, wie wir im Physikunterricht gelernt haben. Also überträgt sich diese auf den Schädel. In seinem Inneren kommt es zu einer Erschütterung des Gehirns; die Gehirnmasse schlägt an die Schädelschale. Prellungen und Risse des Gewebes sind möglich. Aber selbst wenn diese nicht eintreten, bewegt sich die Gehirnmasse auch nach Wochen noch anders als zuvor. Das haben Studien an der University of New Mexico ergeben. Beschwerden können verzögert auftreten und werden dann womöglich nicht mehr mit dem Schädel-Hirn-Trauma in Verbindung gebracht. Hinzu kommt die Gefahr eines sogenannten Second Impact, des zweiten Schlags.Sie resultiert da- raus, dass nach der Gehirnerschütterung die Regulation des zerebralen Blutflusses gestört ist. Wird das Gehirn in dieser Phase durch einen erneuten Sturz oder Schlag ein zweites Mal traumatisiert, kann es zu einem Hirnödem oder einer Hirnblutung – im schlimmsten Fall mit tödlichem Ausgang – kommen. Beide Komplikationen treten selten auf, rechtfertigen jedoch, einen Patienten mit Gehirnerschütterung mindestens 24 Stunden lang zu überwachen.
Eine zweite Gefahr wurde deutlich, nachdem mikroskopische Gewebeuntersuchungen gezeigt hatten, dass Nervenzellen nach einem Trauma in einen besonders verletzlichen Zustand geraten. Ein zweiter Schlag kann den programmierten Zelltod, die sogenannte Apoptose, auslösen. Nervengewebe, das bei strikter Ruhe überlebt hätte, stirbt.
Vom Second Impact bedroht sind vor allem Sportler in Sportarten wie American Football und Fußball, die wiederholt Schädel-Hirn-Traumata ausgesetzt sind. Gefahren bestehen aber auch für Kinder sowie Teile der älteren Bevölkerung, die durch Gleichgewichtsstörungen öfter fallen. Sorgfältige neuropsychologische Untersuchungen haben bei Kindern, die sich scheinbar vollständig vom Schädel-Hirn-Trauma erholt hatten, nicht selten noch neurologische Auffälligkeiten, beispielsweise Koordi- nations- und Gleichgewichtsstörungen, Schwindel und gestörte Reflexe ergeben. Der korrekte Umgang mit Gehirnerschütterungen bei Kindern und Jugendlichen ist daher besonders wichtig, zumal das kindliche Gehirn eine längere Erholungszeit als das erwachsene benötigt; ein einziger Second Impact erhöht bereits das Risiko für eine Gehirnschwellung.
Was also tun? Kinder sollten in ihrem Bewegungsdrang nicht eingeschränkt, Seniorinnen und Senioren vom Radfahren nicht unbedingt abgehalten werden. Mit ihnen emp-
Wird das Gehirn durch einen Sturz oder Schlag ein zweites Mal traumatisiert, kann es zu einem Hirnödem oder einer Hirnblutung kommen.
fiehlt sich ein offenes, altersgerechtes aufklärendes Gespräch, das sie für die möglichen Folgen eines Sturzes sensibilisiert. Nach einem Sturz mit Aufprall des Kopfes sollte in jedem Fall ein Arzt aufgesucht werden. Der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung muss durch eine sorgfältige Untersuchung und ggf. die Befragung von Zeugen bestätigt werden. Der Arzt prüft Bewusstsein und Motorik sowie den Allgemeinzustand. Er führt anhand der sogenannten GlasgowKoma-Skala verschiedene Reaktionstests durch und vergibt für jede Reaktion Punkte. Bei einem leichten Schädel-Hirn-Trauma erreicht der Patient auf der Skala zwischen 13 und 15 Punkte. Bei Kindern unter einem Alter von 36 Monaten findet die Pediatric Glasgow Coma Scale Anwendung. Mithilfe einer Computertomographie kann festgestellt werden, ob weitere Schäden vorliegen. Hat die Computertomographie trotz starker Beschwerden kein eindeutiges Ergebnis erbracht, kann der Mediziner zusätzlich eine Magnetresonanztomographie durchführen. Gegebenenfalls wird er zudem mit Hilfe einer Elektroenzephalographie prüfen, ob die Hirnaktivität verändert ist. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma gilt altersunabhängig für 24 Stunden eine sorgfältige Überwachung. Zu achten ist auf Kopfschmerzen, wiederkehrendes Erbrechen oder neu auftretende Krampfanfälle. Nachts ist die normale Weckbarkeit ein wichtiges Kriterium.
Viele Erkenntnisse aus der Forschung zu Schädel-Hirn-Traumata, die weit über den Profisport hinaus relevant sind, verdanken wir den dramatischen Folgen wiederholter Gehirnerschütterungen für Spieler ei- niger Sportarten wie American Football, Eishockey und Rugby. In den genannten Sportarten haben die Forschungsergebnisse aus den vergangenen 15 Jahren haben bereits zur Verschärfung der Regeln und größerer Fairness geführt. Wenn Gehirnerschütterungen trotzdem eintreten, gilt es ihnen mindestens Zeit zur Heilung zu lassen, so John Hardy, Professor für Neurowissenschaften am University College London. »Nach einer Knieverletzung gibt es drei Monate Pause, nach einer Kopfverletzung sind die Spieler wieder auf dem Feld, sobald sie von zehn rückwärts zählen können«, kritisiert er die die im Fußball nicht unübliche Praxis. Das Reglement sollte dafür sorgen, dass Spieler mit Verdacht auf Gehirnerschütterung so schnell wie möglich ausgewechselt werden.
Die FIFA tut sich noch schwer mit solchen Konsequenzen für den Fußball, wie der Fall Christoph Kramer bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien gezeigt hat. Kramer wankte damals nach einem Foul benommen über das Spielfeld und durfte dennoch weiterspielen. Ein Umdenken ist notwendig – und das nicht nur im Profisport, sondern auch unter Hausärzten, im Sportunterricht, in der Freizeit und überall dort, wo unsichtbare Kopfverletzungen passieren können und als solche erkannt werden müssen