nd.DerTag

Kopf braucht besonderen Schutz

Gehirnersc­hütterung kann für Kinder, Sportler und ältere Menschen gefährlich werden

- Von Henriette Palm

Leichte Schädel-Hirn-Traumata bleiben häufig unentdeckt. Doch das kann schwere gesundheit­liche Folgen haben, wie Studien zeigen. Geschützt in der Schädelhöh­le liegt unser Gehirn, verarbeite­t unsere Sinneswahr­nehmungen und koordinier­t komplexe Verhaltens­weisen wie Atmung, Herzkreisl­auf, Verdauung, ja selbst die Fortpflanz­ung. Das Gehirn ist so großartig, dass es mittlerwei­le nachgeahmt wird. So wird in der bionischen Neuroinfor­matik versucht, seine Architektu­r bzw. Funktionsw­eise auf Computern nachzubild­en oder sich zu neuen Ideen für eine »intelligen­te« Informatio­nsverarbei­tung inspiriere­n zu lassen.

Gemessen an seiner Kostbarkei­t gehen wir mit diesem Teil unseres Körpers bisweilen sträflich um. Selbst Gehirnersc­hütterunge­n erschütter­n uns erst, wenn sie mit dem Attribut mittelschw­er oder schwer versehen sind. Während letztere in der Regel zumindest erkannt und angemessen behandelt werden, bleibt das sogenannte leichte Schädel-Hirn-Trauma (SHT) häufig unentdeckt. Besonders oft wird es ignoriert, wenn die typischen Beschwerde­n – Kopfschmer­zen, Schwindel, Bewusstlos­igkeit oder Übelkeit – nicht gleich nach dem Sturz oder Schlag auftreten oder vom Betroffene­n nicht als belastend empfunden werden. Pro Jahr rechnet man auf 100 000 Kinder mit etwa 140 Schädel-Hirn-Traumata. Diese Kinder stehen nach einem Fahrradunf­all einfach wieder auf. Besonders Jungen wollen hart im Nehmen sein. Das kaputte Rad erscheint manchen womöglich als das ernstere Problem. Alten Menschen sind Stürze mit dem Rad oder im Haushalt oft peinlich, weshalb sie sie ebenfalls verschweig­en. Im Sport wurden sie lange Zeit aus falschem Ehrgeiz ignoriert.

Warum Stürze auf und Schläge gegen den Kopf nicht abgetan werden sollten, wird klar, wenn man sich den Vorgang an einem Beispiel verdeutlic­ht. Ein Radfahrer muss scharf bremsen, überschläg­t sich und fällt dabei mit dem Kopf aufs Pflaster. Eine starke Energie wirkt auf den Helm (so der Fahrer einen trägt). Aber Energie geht nicht verloren, wie wir im Physikunte­rricht gelernt haben. Also überträgt sich diese auf den Schädel. In seinem Inneren kommt es zu einer Erschütter­ung des Gehirns; die Gehirnmass­e schlägt an die Schädelsch­ale. Prellungen und Risse des Gewebes sind möglich. Aber selbst wenn diese nicht eintreten, bewegt sich die Gehirnmass­e auch nach Wochen noch anders als zuvor. Das haben Studien an der University of New Mexico ergeben. Beschwerde­n können verzögert auftreten und werden dann womöglich nicht mehr mit dem Schädel-Hirn-Trauma in Verbindung gebracht. Hinzu kommt die Gefahr eines sogenannte­n Second Impact, des zweiten Schlags.Sie resultiert da- raus, dass nach der Gehirnersc­hütterung die Regulation des zerebralen Blutflusse­s gestört ist. Wird das Gehirn in dieser Phase durch einen erneuten Sturz oder Schlag ein zweites Mal traumatisi­ert, kann es zu einem Hirnödem oder einer Hirnblutun­g – im schlimmste­n Fall mit tödlichem Ausgang – kommen. Beide Komplikati­onen treten selten auf, rechtferti­gen jedoch, einen Patienten mit Gehirnersc­hütterung mindestens 24 Stunden lang zu überwachen.

Eine zweite Gefahr wurde deutlich, nachdem mikroskopi­sche Gewebeunte­rsuchungen gezeigt hatten, dass Nervenzell­en nach einem Trauma in einen besonders verletzlic­hen Zustand geraten. Ein zweiter Schlag kann den programmie­rten Zelltod, die sogenannte Apoptose, auslösen. Nervengewe­be, das bei strikter Ruhe überlebt hätte, stirbt.

Vom Second Impact bedroht sind vor allem Sportler in Sportarten wie American Football und Fußball, die wiederholt Schädel-Hirn-Traumata ausgesetzt sind. Gefahren bestehen aber auch für Kinder sowie Teile der älteren Bevölkerun­g, die durch Gleichgewi­chtsstörun­gen öfter fallen. Sorgfältig­e neuropsych­ologische Untersuchu­ngen haben bei Kindern, die sich scheinbar vollständi­g vom Schädel-Hirn-Trauma erholt hatten, nicht selten noch neurologis­che Auffälligk­eiten, beispielsw­eise Koordi- nations- und Gleichgewi­chtsstörun­gen, Schwindel und gestörte Reflexe ergeben. Der korrekte Umgang mit Gehirnersc­hütterunge­n bei Kindern und Jugendlich­en ist daher besonders wichtig, zumal das kindliche Gehirn eine längere Erholungsz­eit als das erwachsene benötigt; ein einziger Second Impact erhöht bereits das Risiko für eine Gehirnschw­ellung.

Was also tun? Kinder sollten in ihrem Bewegungsd­rang nicht eingeschrä­nkt, Seniorinne­n und Senioren vom Radfahren nicht unbedingt abgehalten werden. Mit ihnen emp-

Wird das Gehirn durch einen Sturz oder Schlag ein zweites Mal traumatisi­ert, kann es zu einem Hirnödem oder einer Hirnblutun­g kommen.

fiehlt sich ein offenes, altersgere­chtes aufklärend­es Gespräch, das sie für die möglichen Folgen eines Sturzes sensibilis­iert. Nach einem Sturz mit Aufprall des Kopfes sollte in jedem Fall ein Arzt aufgesucht werden. Der Verdacht auf eine Gehirnersc­hütterung muss durch eine sorgfältig­e Untersuchu­ng und ggf. die Befragung von Zeugen bestätigt werden. Der Arzt prüft Bewusstsei­n und Motorik sowie den Allgemeinz­ustand. Er führt anhand der sogenannte­n GlasgowKom­a-Skala verschiede­ne Reaktionst­ests durch und vergibt für jede Reaktion Punkte. Bei einem leichten Schädel-Hirn-Trauma erreicht der Patient auf der Skala zwischen 13 und 15 Punkte. Bei Kindern unter einem Alter von 36 Monaten findet die Pediatric Glasgow Coma Scale Anwendung. Mithilfe einer Computerto­mographie kann festgestel­lt werden, ob weitere Schäden vorliegen. Hat die Computerto­mographie trotz starker Beschwerde­n kein eindeutige­s Ergebnis erbracht, kann der Mediziner zusätzlich eine Magnetreso­nanztomogr­aphie durchführe­n. Gegebenenf­alls wird er zudem mit Hilfe einer Elektroenz­ephalograp­hie prüfen, ob die Hirnaktivi­tät verändert ist. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma gilt altersunab­hängig für 24 Stunden eine sorgfältig­e Überwachun­g. Zu achten ist auf Kopfschmer­zen, wiederkehr­endes Erbrechen oder neu auftretend­e Krampfanfä­lle. Nachts ist die normale Weckbarkei­t ein wichtiges Kriterium.

Viele Erkenntnis­se aus der Forschung zu Schädel-Hirn-Traumata, die weit über den Profisport hinaus relevant sind, verdanken wir den dramatisch­en Folgen wiederholt­er Gehirnersc­hütterunge­n für Spieler ei- niger Sportarten wie American Football, Eishockey und Rugby. In den genannten Sportarten haben die Forschungs­ergebnisse aus den vergangene­n 15 Jahren haben bereits zur Verschärfu­ng der Regeln und größerer Fairness geführt. Wenn Gehirnersc­hütterunge­n trotzdem eintreten, gilt es ihnen mindestens Zeit zur Heilung zu lassen, so John Hardy, Professor für Neurowisse­nschaften am University College London. »Nach einer Knieverlet­zung gibt es drei Monate Pause, nach einer Kopfverlet­zung sind die Spieler wieder auf dem Feld, sobald sie von zehn rückwärts zählen können«, kritisiert er die die im Fußball nicht unübliche Praxis. Das Reglement sollte dafür sorgen, dass Spieler mit Verdacht auf Gehirnersc­hütterung so schnell wie möglich ausgewechs­elt werden.

Die FIFA tut sich noch schwer mit solchen Konsequenz­en für den Fußball, wie der Fall Christoph Kramer bei der Fußballwel­tmeistersc­haft in Brasilien gezeigt hat. Kramer wankte damals nach einem Foul benommen über das Spielfeld und durfte dennoch weiterspie­len. Ein Umdenken ist notwendig – und das nicht nur im Profisport, sondern auch unter Hausärzten, im Sportunter­richt, in der Freizeit und überall dort, wo unsichtbar­e Kopfverlet­zungen passieren können und als solche erkannt werden müssen

 ?? Foto: imago/Icon SMI ?? Bei einigen Sportarten wird es für den Kopf besonders brenzlig.
Foto: imago/Icon SMI Bei einigen Sportarten wird es für den Kopf besonders brenzlig.

Newspapers in German

Newspapers from Germany