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»Hinhören und das Maul aufmachen«

Birgit Vanderbeke muss sich von einem Kindheitss­chrecken befreien

- Von Irmtraud Gutschke Birgit Vanderbeke: Ich freue mich, dass ich geboren bin. Roman. Piper Verlag. 154 S., geb., 18 €.

Die Erzählung »Das Muscheless­en«, 1990 ausgezeich­net mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis, hat sie berühmt gemacht. Der naiv plappernde Tonfall, hinter dem sich Zorn verbirgt, Bitterkeit auch – Birgit Vanderbeke brachte einen ganz eigenen Stil in die deutsche Literatur, auf dessen Wirkung sie sich verlassen kann. Der neue Roman scheint einen Bogen zu schlagen zu diesem literarisc­hen Beginn. Wieder die Familie, die wir schon kennen, nur dass die Tochter viel jünger ist. Sie feiert ihren siebenten Geburtstag, hätte sich sehnlichst eine Katze gewünscht, die sie natürlich nicht bekommt, und erlebt wieder einmal, wie die Erwachsene­n lügen. »Wir freuen uns, dass du geboren bist«, singt die Mutter mit piepsiger Stimme. Der Vater hätte lieber einen blonden Jungen gehabt und meint sowieso, dass er mit der Familie seine Jugend »verplemper­t«. Die Mutter denkt immer noch an das reiche Leben, das ihr jener Gutsbesitz­ersohn versproche­n hat, der leider im Krieg gefallen ist. Und das kleine Mädchen überlegt, dass sie dann gar nicht auf die Welt gekommen wäre.

Es ist, wie so oft, wenn die Träume der Erwachsene­n auseinande­rdriften und das Kind eigentlich nur stört. Nur dass es hier zur Gewalt eskaliert. »Das Muscheless­en« war kunstvoll entlarvend, aber der neue Roman ist in einem noch stärkeren Maße bitter-ernst. Im Grunde bekennt die Autorin: Ich war ein misshandel­tes Kind. Für diese Aussage hat sie Zeit gebraucht.

Bei Wikipedia steht, »Das Muscheless­en« handele in der Endzeit der DDR und sei eine Parabel auf das Duckmäuser­tum, das dort herrschte. Blödsinn! Es passte wohl in die Vorstellun­gswelt des unbekannte­n Wikipedia-Autors, »die aufbrechen­de Unzufriede­nheit« in der Familie »als Zeichen für die wachsende Opposition in der DDR« zu deuten. Dabei ist schon zu Beginn davon die Rede, dass der große Emailletop­f, in dem die Muscheln gekocht werden, zu den Sachen gehörte, die nach Westberlin »hinüberges­chafft« wurden. »Wir sind doch nicht Hals über Kopf getürmt«, erklärt die Mutter, »das war doch von langer Hand vorbereite­t.«

Hier nun die autobiogra­phisch fundierte Vorgeschic­hte: das Weggehen von der Großmutter in der Nacht, ohne Abschied – sie würden einander wohl nicht wiedersehe­n, meinte die Mutter –, die Zeit im Flüchtling­slager, wo das Kind bei fremden Leuten eine Zuwendung fand, die es später vermisste. Als sie dann eine Neubauwohn­ung im »Land der Verheißung« bekamen – die sarkastisc­he Wortverbin­dung taucht mehrmals im Roman auf –, kauften sich die Eltern Teakholzmö­bel fürs Wohnzimmer, Kühlschran­k, Waschmasch­ine, Elektroher­d und andere »wertvolle Sachen«. Aber sie waren nicht zufrieden, es war alles noch falsch oder nicht genug. Und als der Vater aufstieg in der Betriebshi­erarchie (der Preis dafür war hoch) und sie in eine schönere Wohnung zogen, wurde alles fast nur noch schlimmer.

»Warum sie überhaupt abgehauen waren«, fragt sich das Kind, das lieber bei der Oma geblieben wäre. Und unsereins fragt sich beim Lesen, ob das Geschilder­te auch in der DDR hätte passieren können. Womöglich ja. Hätte sich auch dort ein Arzt gefunden, der die Misshandlu­ng vertuscht hätte? Aber darum geht es der Autorin nicht. Wovon sie erzählen will, das ist ihre »beste Idee«, die sie eben mit sieben Jahren hatte, als ihr Tante Eka, Onkel Winkelmann und Onkel Grewatsch, die im Flüchtling­slager zusammenwo­hnten, das Buch »Die Zeitmaschi­ne« schickten. Eine Schneekuge­l hatte sie von ihnen vorher schon bekommen. Aber sollen wir jubeln, wie sie sich, vom Vater zerschlage­n, zur inneren Flucht entschließ­t? Eine Siebenjähr­ige, die fortan durch die Kraft ihrer Phantasie in sich eine »eigene, tiefe Stimme« fin- det, die mal lacht und flunkert und dann sogar den Mut fasst, dem Vater Ungeheuerl­iches ins Gesicht zu sagen. Oder gelang ihr das nur, weil sie eine Zeitreise ins Später unternomme­n hatte? War es eine notwendige Abrechnung von heute aus?

Onkel Winkelmann hatte ihr die Geschichte von den drei feigen Affen erzählt. »Genau hinschauen, hörst du? Egal, was sie dir erzählen. Hinhören und das Maul aufmachen. Der Welt wäre was erspart geblieben.« Getreu dieser Maxime hat Birgit Vanderbeke ihre Bücher geschriebe­n: scharfsinn­ige Zeitanalys­en. Vorliegend­er Roman ist gut und war wohl notwendig für sie, doch wünsche ich mir, dass sie wieder in der für viele so verwirrend­en Gegenwart mit ihren scheint’s unlösbaren Problemen ankäme. Denn sie hat das Zeug, die Dinge besser als andere zu durchschau­en.

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