Statt Beben: Leben
Lothar Warneke wäre 80
So
viele scheinbare Sensationen und Skandale, täglich. Lüge. Was uns fortlaufend passiert, ist doch: dass nichts geschieht. Davon kann man beseelt sein, darüber kann man auch verrückt werden. Was das Leben ausmacht, ist weder höhere Vernunft noch große Kraft, sondern schlichtweg: der längere Atem, die eigene Nichtigkeit – heiter! – auszuhalten.
In diesem Sinne sind Lothar Warnekes Filme heute provokativer, als sie es zu ihrer Entstehungszeit waren. Jene Provokation, der also lange nach dem Tod des Regisseurs (im Jahre 2005) nachzusinnen wäre – sie liegt im Mut fürs Dramatischste unseres Daseins: das Undramatische. Warneke (»Leben mit Uwe«, »Unser kurzes Leben«, »Die unverbesserliche Barbara«, »Einer trage des anderen Last«) drehte nämlich zunächst sehr dokumentar veranlagte, impressionistisch sich entfaltende Spielfilme, er wagte erzählerische Unschärfe und frappierende Bebenlosigkeit, er erinnerte in seiner weichen, puren Abbildungstreue an Gedichte von Peter Handke – der setzte einen Filmabspann oder eine Fußballmannschafts-Aufstellung in gebrochene Zeilen, und allein, indem man so etwas aus üblichem Zusammenhang nimmt und als Gedicht bezeichnet, stellt sich in der Wahrnehmung ein verfremdender Impuls ein.
Der Volksbühnenschauspieler Werner Tietze war Hauptheld (Held? Nein, nie und nimmer Held!) des Films »Dr. med. Sommer II« (1970): Krankenhausmühen in einer kleinen Stadt. Mehr nicht. Minutiös, nüchtern, un- spektakulär. Tietze: aufreizend scheu. So auch Warnekes zweiter Film, Studentenleben: »Es ist eine alte Geschichte«. Es war, als habe der Regisseur ein frühes Zeichen gesetzt gegen den Wahnsinn, dem wir uns heute ratlos opfern, denn: All das Plakat- und Schlagzeilenbunte, das uns nunmehr so knebelt und stempelt – es degradiert uns zu storyfixierten Hechlern.
Später wurden Warnekes Filme dramatischer; was aber blieb, war der philosophische Grundton, war das Existenznackte und Ungesicherte, gesetzt gegen die mit rot blendenden Ausrufezeichen gespickte Scheinwelt Sozialismus. In diesen DEFA-Filmen tickte die bedrohliche Lebensuhr sehr leise. Der 1936 Geborene hatte ein Theologiestudium abgebrochen, seine Filme bewahrten aber jene Ahnung vom allgewaltig Ambivalenten, das christliches Denken so reich und beständig hält. Er erzählte – etwa in der »Beunruhigung« mit Christine Schorn, dem plötzlich alles erschütternden Krebsschicksal einer doch so selbstbewussten Frau – von der unbesiegbaren Grundangst des jederzeit in den Tod abrufbaren menschlichen Wesens.
»Die kalte Farbe des Tisches,/ der Duft geschnittener Gurken,/ die Gespräche, das geschlossene Fenster,/ o Nichtigkeiten, neu an eurem Platz,/ mit euch zu leben, und in Frieden.« So heißt es in einem Gedicht des Hallenser Dichters Axel Schulze. Dieser Frieden, das ist das große Geringe – Glück und Unglück zugleich. Wo ist Sehnsucht am größten und zugleich am unerfülltesten? »Zu ebener Erde«. So heißt ein Lyrikband des erwähnten Axel Schulze. Und so heißen im Grunde alle Filme von Lothar Warneke. Der heute 80 wäre.