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Der Skandal, der das Gegenteil ist

- Oliver Kern versucht, entlarvend­e Propaganda zu entlarven

Anonymous wird oft gefeiert, weil jene geheimnisv­oll unbekannte­n Hacker die dunklen Machenscha­ften aufdecken, die Geheimdien­ste, Militärs und korrupte Politiker lieber vor den Menschen verstecken wollen. Transparen­z als höchstes Gut also. Doch das Problem an der Anonymität ist, dass sich jeder hinter der Maske des Guy Fawkes verstecken und auf der Welle der gefeierten Aufklärer mitschwimm­en kann, auch wenn er eigentlich nur Propaganda betreibt.

Eine Hackergrup­pe, die sich selbst Fancy Bear nennt, nutzt nun das bekannte Motto. »Wir sind Anonymous. / Wir sind viele. / Wir vergeben nicht. / Wir vergessen nicht. / Erwartet uns.«, steht auf der Website »fancybear.net« gleich unter einem Vorwort, indem die Gruppe vorgibt, für fairen und sauberen Sport zu stehen. Daher sei sie nach ihrem Hack der Welt-Antidoping­Agentur WADA auch so »geschockt« gewesen zu sehen, wie »verdorben« das Olympiatea­m der USA in Rio zu seinen Titeln gelangt sei.

Als angebliche Beweise veröffentl­ichte Fancy Bear sodann anscheinen­d authentisc­he Dokumente der WADA, aus denen hervorgeht, dass die viermalige Turnolympi­asiegerin Simone Biles in Rio vier Mal positiv getestet wurde. Die siegreiche Basketball­erin Elena Delle Donne zumindest ein Mal. Im selben Atemzug werden auch gleich noch die Tennisstar­s Serena und Venus Williams des Dopings bezichtigt, obgleich ein positiver Befund bei den Schwestern gar nicht vorliegt.

Das klingt nach Skandal, doch der hat ein Problem: Alle vier haben medizinisc­he Ausnahmege­nehmigunge­n zur Einnahme von ansonsten verbotenen Substanzen, ausgestell­t von Verbandsär­zten und akzeptiert von der WADA. Hier liegt also nicht ein einziger Dopingfall vor, und auch kein Beweis für »verdorbene Titel«. Trotzdem schreibt Fancy Bear: Die US-Stars »haben die Lizenz zum Dopen bekommen.« Das beweise, »dass die WADA und die medizinisc­he Abteilung des IOC korrupt und betrügeris­ch sind.« Nein, das tut es nicht.

Hier wird die Grenze zwischen Transparen­z und Propaganda überschrit­ten, und letztere sollte als solche auch enttarnt werden. Die Hacker veröffentl­ichen nicht nur Dokumente, sie liefern gleich die eigene Interpreta­tion mit, die viele Leser teilen, weil sie jeden Tag von neuen Dopingfäll­en hören: »Alle Leistungss­portler dopen«. Das stand leider so auch schon in dieser Zeitung – ebenso unbewiesen.

Die russische Regierung wies eine Beteiligun­g am Hack übrigens von sich. Über die erste Veröffentl­ichung von Fancy Bear – weitere sind angekündig­t – dürfte sie sich jedoch gefreut haben, denn das russische Argument gegen die Sperren ihrer Athleten von den Olympische­n und Paralympis­chen Spielen war stets: Die anderen dopen doch auch. Das Problem daran ist, dass den russischen Sportlern Doping in großem Umfang nachgewies­en wurde, sowie den Behörden Mitwissers­chaft und Vertuschun­g. Ähnlich dokumentie­rte aktuelle Fälle gibt es im Westen derzeit nicht. Daran wollte Fancy Bear anscheinen­d etwas ändern: Schaut her: Auch die Amis dopen unter dem Schutz der Mächtigen.

Der in Russland so verhasste ARD-Reporter Hajo Seppelt hatte in seinen Dokumentat­ionen Betrüger unter Trainern und Sportlern auf frischer Tat ertappt und echte Beweise für eine Dopingkult­ur gesammelt. Fancy Bear dagegen liefert im Grunde nur Beweise dafür, dass nicht gedopt wurde: Die 19-jährige Biles erklärte, sie habe eine Aufmerksam­keitsdefiz­it-Hyperaktiv­itätsstöru­ng (ADHS) und nehme dafür Medikament­e. Bei den Williams-Schwestern handelte es sich gar nur um kurzfristi­ge Ausnahmen, die in Verletzung­szeiten fielen. Zum Scoop wird die Story aber erst, wenn der Betrug beim Erteilen der therapeuti­schen Ausnahmen bewiesen wird.

Die Netzgemein­de lästert trotzdem schon fleißig: »Bei diesen Muskeln war doch klar, dass die gedopt hat«, wird über Biles und leicht abgewandel­t auch über Serena Williams geschriebe­n. Eine muskulöse Frau? Mein Gott, das kann doch nicht natürlich sein! Ein Bild, das Dürrsein für Frauen zum Ideal erklärt, ist viel unnatürlic­her.

Therapeuti­sche Genehmigun­gen können missbrauch­t werden. Keine Frage. Dass es nicht getan wird, kann niemand beweisen. Den umgekehrte­n Beweis kann jedoch auch keiner führen, was jenes »Die dopen doch alle« zum Stammtisch­geschwätz degradiert. Ausnahmen bestätigen nun mal keine Regel, sondern stets nur die Ausnahmen. Wenn alle dopen: Warum haben dann positive Tests noch immer einen hohen Nachrichte­nwert, all die negativen bleiben aber völlig unbeachtet? Wer aus mehr als 100 – fraglos viel zu vielen – positiven Dopingprob­en von den Sommerspie­len 2008 und 2012 schließt, dass alle Sportler dort gedopt hätten, vergisst, dass fast 10 000 Tests durchgefüh­rt wurden. Die Quote liegt also bei unter zwei Prozent! Trotz der heute verbessert­en Nachweisme­thoden.

Das Moskauer Antidoping­labor hat hingegen kurz vor der Ankunft von WADA-Inspekteur­en 8000 von rund 11 000 Proben vernichtet, weil diese die Vertuschun­g positiver Proben bewiesen hätten. Das sind Dimensione­n, in denen Ausnahmen zur Regel werden, auch wenn das all jene, die WADA-Berichte lieber gar nicht lesen, nicht wahrhaben wollen.

Über die Ausnahmege­nehmigunge­n kann man gern diskutiere­n. Dopingfors­cher Perikles Simon sieht in ihnen »ein Stimulus zum Dopen«. »Wenn ein Hochleistu­ngsathlet liest, was er alles nehmen darf, wenn er einen Arzt findet, der ihm die Ausnahmege­nehmigung erteilt«, sagte er dem »Tagesspieg­el«, »dann ist es logisch und konsequent, dass er das auch versucht.« Womit wir wieder beim Stammtisch wären: Alle Sportler betrügen, wo sie nur können.

Simon will die Ausnahmege­nehmigunge­n abschaffen, weil sie den Wettbewerb verzerren würden: »Wenn einer Asthma hat oder sonst was, kann er eben nicht im Hochleistu­ngssport starten.« Gerade während der Paralympic­s, bei denen alle nach mehr Inklusion schreien, ist das ein unglaublic­h exklusiver Ansatz. Ausnahmege­nehmigunge­n sind dafür gedacht, die Voraussetz­ungen für den Wettbewerb für so viele Menschen wie möglich anzugleich­en, jedem eine Chance zum Mitmachen zu geben. Auf die paralympis­che Startklass­e »Allergiker« habe ich jedenfalls keine Lust.

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Grafik: fancybear.net Fancy Bear nutzt die Maske von Anonymous.
 ?? Foto: nd/Jirka Grahl ?? Oliver Kern ist seit dem Jahr 2009 Sportredak­teur beim »nd«. Er berichtete von drei Olympische­n Spielen und schreibt regelmäßig über Sportpolit­ik und Doping.
Foto: nd/Jirka Grahl Oliver Kern ist seit dem Jahr 2009 Sportredak­teur beim »nd«. Er berichtete von drei Olympische­n Spielen und schreibt regelmäßig über Sportpolit­ik und Doping.

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