Gang-Gewalt hinter Gittern
Mehr als 30 Tote bei Meutereien in brasilianischen Gefängnissen
Boa Vista. 25 Häftlinge sind bei Kämpfen rivalisierender Banden in einem Gefängnis der nordbrasilianischen Stadt Boa Vista brutal getötet worden. Sieben seien enthauptet und sechs verbrannt worden, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Agência Brasil unter Berufung auf die Polizei. Zudem seien rund 100 Angehörige von Gefangenen während der Besuchszeit in der Anstalt zwischenzeitlich als Geiseln genommen worden. Bei einer weiteren Meuterei in einem Gefängnis in Porto Velho (Bundesstaat Rondônia) starben am Montag nach Angaben des Portals »O Globo« mindestens acht Häftlinge. Bei der zweiten Meuterei in Porto Velho könnte es sich um einen Racheakt für das Geschehen in Boa Vista handeln, spekulierten Medien.
Brasilien ist eines der Länder mit der weltweit höchsten Zahl an Gefängnisinsassen, Ausschreitungen sind keine Seltenheit. Im September wurden nach einer Gefängnismeuterei in Jardinópolis mehr als 300 geflohene Häftlinge von der Polizei festgenommen.
49 Tote im Februar bei einer Meuterei in Mexiko, nun 25 im brasilianischen Boa Vista. Die Gefängnisse in Lateinamerika sind oft rechtsfreie Räume, die von Banden dominiert werden.
Der Besuchstag endet im Horror. Mit Messern und mit Holzlatten bewaffnet brechen Häftlinge im Gefängnis »Monte Cristo« in der nordbrasilianischen Stadt Boa Vista Schlösser in einen anderen Trakt der Haftanstalt auf und dringen gewaltsam dort ein. Die Häftlinge nehmen mehr als 100 Menschen als Geiseln, die in der Anstalt inhaftierte Angehörige besuchen. Im Laufe der Auseinandersetzungen sterben nach Angaben der Polizei bis zu 25 Häftlinge. Sieben werden sogar brutal enthauptet, sechs verbrannt. Es ist eine Katastrophe mit Ansage.
Viele Frauen befanden sich zum Zeitpunkt des Gewaltausbruchs in der weitläufigen Gefängnisanlage, um ihre Männer zu besuchen. Nach einer langen Zeit der Angst konnten sie am Sonntagabend (Ortszeit) erst nach sieben Stunden durch eine Spezialeinheit befreit werden. Nach Medienangaben wurde von den Geiseln niemand verletzt.
Boa Vista ist die Hauptstadt des Bundesstaates Roraima, der an der Grenze zu Venezuela liegt. In Gefängnis »Monte Cristo« war es wiederholt zu gewaltsamen Konflikten zwischen Gefangenen gekommen – hinter den Gefängnismauern kämpfen Banden immer wieder um die Vorherrschaft.
Bei den Angreifern soll es sich um Mitglieder des »Primeiro Comando da Capital« (Erstes Kommando der Hauptstadt) handeln, die Mitglieder des »Comando Vermelho« (Rotes Kommando) angriffen. Die Gangs sind landesweit aktiv. Das »Comando Vermelho« gilt als Hauptlieferant von Drogen in Rio und liefert sich dort in Armenvierteln, den Favelas, immer wieder Schießereien mit der Polizei.
Die tiefe Rezession im Land, die mangelhafte Ausstattung der Polizei und zu wenig Personal lassen die Situation im Innern der Gefängnismauern immer wieder eskalieren. »Die brasilianischen Gefängnisse sind wahre Schulen des Verbrechens«, meint der frühere brasilianische Justizminister José Eduardo Cardozo. Drinnen hätten oft die kriminelle Organisationen das Sagen, die auch die Gewalt außerhalb der Gefängnismauern steuerten.
Die Haftbedingungen im Gefängnis in Boa Vista sind katastrophal, die Häftlinge müssen zum Teil in provisorischen Baracken hausen. Eigentlich hat die Haftanstalt nur 740 Plätze, derzeit sollen sich allerdings mit etwa 1400 aber fast doppelt so viele Häftlinge wie eigentlich vorgesehen dort befinden.
In Brasilien kommt es immer wieder zu folgenschweren Meutereien in Gefängnissen. Als schlimmste Tragödie gilt das Massaker im Gefängnis Carandiru in São Paulo, bei dem 1992 mehr als 100 Menschen getötet wurden. Im ganzen Land soll es derzeit nach Angaben des Forschungsinstituts IPCR über 620 000 Häftlinge geben. Da oft Gelder für begleitenden Sozial- und Ausbildungsmaßnahmen fehlen, setzen sich kriminelle Karrieren in den Gefängnissen fort.
Allein in diesem Oktober sollen aus der Haftanstalt »Monte Cristo« mehr als 30 Gefangene geflohen sein, vor einer Woche beschlagnahmte die Polizei dort Drogen im Wert von rund 280 000 Euro. Die Polizei hält sich ansonsten weitgehend heraus aus dem, was sich da drinnen abspielt – wie in so vielen Gefängnissen in Lateinamerika.
Im Februar starben bei einer Meuterei im Gefängnis Topo Chico in der mexikanischen Stadt Monterrey 49 Menschen. Wer Geld hat, kann sich aber auch in der Haft vieles leisten – Polizisten fanden nach der Tragödie von Monterrey Zellen mit Fernsehern, Minikühlschränken, Aquarien und Saunen.
Joana Moura, die Vorsitzende der Gewerkschaft der Strafvollzugsbeamten in Roraima, sagte der brasilianischen Zeitung »Folha de Boa Vista«, der Vorfall im Gefängnis von Boa Vista sei das Ergebnis mangelnden Interesses der Regierung des Bundesstaates für das Gefängnissystem. Es gebe keine Sicherheitseinrichtungen, nicht genügend Personal, und die Wachleute seien völlig überarbeitet.