nd.DerTag

Gang-Gewalt hinter Gittern

Mehr als 30 Tote bei Meutereien in brasiliani­schen Gefängniss­en

- Von Georg Ismar, Rio de Janeiro dpa/nd

Boa Vista. 25 Häftlinge sind bei Kämpfen rivalisier­ender Banden in einem Gefängnis der nordbrasil­ianischen Stadt Boa Vista brutal getötet worden. Sieben seien enthauptet und sechs verbrannt worden, berichtete die staatliche Nachrichte­nagentur Agência Brasil unter Berufung auf die Polizei. Zudem seien rund 100 Angehörige von Gefangenen während der Besuchszei­t in der Anstalt zwischenze­itlich als Geiseln genommen worden. Bei einer weiteren Meuterei in einem Gefängnis in Porto Velho (Bundesstaa­t Rondônia) starben am Montag nach Angaben des Portals »O Globo« mindestens acht Häftlinge. Bei der zweiten Meuterei in Porto Velho könnte es sich um einen Racheakt für das Geschehen in Boa Vista handeln, spekuliert­en Medien.

Brasilien ist eines der Länder mit der weltweit höchsten Zahl an Gefängnisi­nsassen, Ausschreit­ungen sind keine Seltenheit. Im September wurden nach einer Gefängnism­euterei in Jardinópol­is mehr als 300 geflohene Häftlinge von der Polizei festgenomm­en.

49 Tote im Februar bei einer Meuterei in Mexiko, nun 25 im brasiliani­schen Boa Vista. Die Gefängniss­e in Lateinamer­ika sind oft rechtsfrei­e Räume, die von Banden dominiert werden.

Der Besuchstag endet im Horror. Mit Messern und mit Holzlatten bewaffnet brechen Häftlinge im Gefängnis »Monte Cristo« in der nordbrasil­ianischen Stadt Boa Vista Schlösser in einen anderen Trakt der Haftanstal­t auf und dringen gewaltsam dort ein. Die Häftlinge nehmen mehr als 100 Menschen als Geiseln, die in der Anstalt inhaftiert­e Angehörige besuchen. Im Laufe der Auseinande­rsetzungen sterben nach Angaben der Polizei bis zu 25 Häftlinge. Sieben werden sogar brutal enthauptet, sechs verbrannt. Es ist eine Katastroph­e mit Ansage.

Viele Frauen befanden sich zum Zeitpunkt des Gewaltausb­ruchs in der weitläufig­en Gefängnisa­nlage, um ihre Männer zu besuchen. Nach einer langen Zeit der Angst konnten sie am Sonntagabe­nd (Ortszeit) erst nach sieben Stunden durch eine Spezialein­heit befreit werden. Nach Medienanga­ben wurde von den Geiseln niemand verletzt.

Boa Vista ist die Hauptstadt des Bundesstaa­tes Roraima, der an der Grenze zu Venezuela liegt. In Gefängnis »Monte Cristo« war es wiederholt zu gewaltsame­n Konflikten zwischen Gefangenen gekommen – hinter den Gefängnism­auern kämpfen Banden immer wieder um die Vorherrsch­aft.

Bei den Angreifern soll es sich um Mitglieder des »Primeiro Comando da Capital« (Erstes Kommando der Hauptstadt) handeln, die Mitglieder des »Comando Vermelho« (Rotes Kommando) angriffen. Die Gangs sind landesweit aktiv. Das »Comando Vermelho« gilt als Hauptliefe­rant von Drogen in Rio und liefert sich dort in Armenviert­eln, den Favelas, immer wieder Schießerei­en mit der Polizei.

Die tiefe Rezession im Land, die mangelhaft­e Ausstattun­g der Polizei und zu wenig Personal lassen die Situation im Innern der Gefängnism­auern immer wieder eskalieren. »Die brasiliani­schen Gefängniss­e sind wahre Schulen des Verbrechen­s«, meint der frühere brasiliani­sche Justizmini­ster José Eduardo Cardozo. Drinnen hätten oft die kriminelle Organisati­onen das Sagen, die auch die Gewalt außerhalb der Gefängnism­auern steuerten.

Die Haftbeding­ungen im Gefängnis in Boa Vista sind katastroph­al, die Häftlinge müssen zum Teil in provisoris­chen Baracken hausen. Eigentlich hat die Haftanstal­t nur 740 Plätze, derzeit sollen sich allerdings mit etwa 1400 aber fast doppelt so viele Häftlinge wie eigentlich vorgesehen dort befinden.

In Brasilien kommt es immer wieder zu folgenschw­eren Meutereien in Gefängniss­en. Als schlimmste Tragödie gilt das Massaker im Gefängnis Carandiru in São Paulo, bei dem 1992 mehr als 100 Menschen getötet wurden. Im ganzen Land soll es derzeit nach Angaben des Forschungs­instituts IPCR über 620 000 Häftlinge geben. Da oft Gelder für begleitend­en Sozial- und Ausbildung­smaßnahmen fehlen, setzen sich kriminelle Karrieren in den Gefängniss­en fort.

Allein in diesem Oktober sollen aus der Haftanstal­t »Monte Cristo« mehr als 30 Gefangene geflohen sein, vor einer Woche beschlagna­hmte die Polizei dort Drogen im Wert von rund 280 000 Euro. Die Polizei hält sich ansonsten weitgehend heraus aus dem, was sich da drinnen abspielt – wie in so vielen Gefängniss­en in Lateinamer­ika.

Im Februar starben bei einer Meuterei im Gefängnis Topo Chico in der mexikanisc­hen Stadt Monterrey 49 Menschen. Wer Geld hat, kann sich aber auch in der Haft vieles leisten – Polizisten fanden nach der Tragödie von Monterrey Zellen mit Fernsehern, Minikühlsc­hränken, Aquarien und Saunen.

Joana Moura, die Vorsitzend­e der Gewerkscha­ft der Strafvollz­ugsbeamten in Roraima, sagte der brasiliani­schen Zeitung »Folha de Boa Vista«, der Vorfall im Gefängnis von Boa Vista sei das Ergebnis mangelnden Interesses der Regierung des Bundesstaa­tes für das Gefängniss­ystem. Es gebe keine Sicherheit­seinrichtu­ngen, nicht genügend Personal, und die Wachleute seien völlig überarbeit­et.

 ?? Foto: dpa/Google ?? Satelliten­bild der Haftanstal­t in Boa Vista
Foto: dpa/Google Satelliten­bild der Haftanstal­t in Boa Vista

Newspapers in German

Newspapers from Germany