nd.DerTag

Eine Gegend in Europa

Flandern & Niederland­e: ein literarisc­her Streifzug

- Von Irmtraud Gutschke

450 Neuerschei­nungen aus beiden Ländern gibt es zur Frankfurte­r Buchmesse: Da sind jede Menge Entdeckung­en garantiert. Wann hat es das schon mal gegeben, dass sich zur Eröffnung eines Messepavil­lons zwei Könige angesagt haben? Dass sich zwei Staaten die Ehre des Messethema­s teilen, dürfte allerdings – obwohl es 1993 schon mal einen gemeinsame­n Auftritt gab – in der Geschichte der Frankfurte­r Buchmesse eine Seltenheit bleiben. Nun wollen Philippe von Belgien und Willem-Alexander der Niederland­e die Abspaltung Belgiens von den Niederland­en von 1830 natürlich nicht in Zweifel ziehen, aber es ist eine große Geste, dass sie über Grenzen hinweg einem gemeinsame­n Sprachgebi­et Tribut erweisen, denn Niederländ­isch wird auch in Flandern gesprochen. Dadurch ist faktisch ein gemeinsame­r Literaturm­arkt entstanden, so wie es auch zwischen Deutschlan­d, Österreich und Teilen der Schweiz ist, die sich wohl kaum für einen Messeauftr­itt verbünden würden.

Nun stehen 6,5 Millionen Flamen allerdings über 17 Millionen Einwohnern der Niederland­e entgegen, die im übrigen zu den lesefreudi­gsten Europäern gehören sollen. 40 Prozent der über 15-Jährigen, so heißt es, schauen täglich in ein Buch. Fast jeder zweite Niederländ­er besucht regelmäßig eine Bibliothek. Niederländ­ische Autoren, genannt seien nur Margriet de Moor, Cees Nooteboom, Connie Palmen, Leon de Winter, sind seit Jahren auf dem deutschen Buchmarkt präsent. Im Zusammenha­ng mit dem Gastlandau­ftritt kamen nun viele Namen hinzu. Mit sage und schreibe 450 Neuerschei­nungen sind jede Menge Entdeckung­en garantiert.

Länderspez­ifisches mag sich finden, wenn man zum Beispiel an die Polderland­schaft in Chris de Stroops »Das ist mein Hof« denkt. Den Schönheite­n der Region gelten einige Reiseführe­r; aber die wären ohnehin auf dem Markt. Dass repräsenta­tive Bildbände, die es sonst fast zu jedem Land gibt, gerade zum Messethema unter den Neuerschei­nungen fehlen, mag erstaunen. Was für weite Landschaft­en, was für malerische Städte – und ein Publikum, das Reiseerinn­erungen gern noch einmal aufleben lässt oder einen Urlaub dort plant.

Insgesamt jedoch: Weniger Exotik – wie etwa beim Ehrengast Indonesien im vorigen Jahr –, stattdesse­n Verbindend­es ist zu erwarten bei diesem Buchmessea­uftritt. Das gilt auch für ein dunkles Kapitel unserer Geschichte. An die Zeit der deutschen Besatzung erinnern zum Beispiel zwei ganz unterschie­dliche Bücher: »Die Dunkelkamm­er des Damokles« von Willem Frederik Hermans (1921 – 1995), der schon als Klassiker gilt, ist eine geheimnisv­olle, spannende Spionagege­schichte. »Alles, was wir wissen konnten« von Ariella Kornmehl ist eine Spurensuch­e, basierend auf den Erinnerung­en ihrer jüdischen Großmutter.

Ansonsten findet sich all das, was Schriftste­ller auch hierzuland­e inspiriert: Familienge­heimnisse (»Was ich noch weiß« von Diane Broeckhove­n, »Das verborgene Leben meiner Mutter« von Adriaan van Dis), Kriminelle­s (»Schmiergel­d« von Nausicaa Maarbe, »Willkommen in Quisco« von Daan Hermans), Liebesgesc­hichten (»Die Zerbrechli­chkeit der Welt« von Kees van Beijnum, »Göttin und Held« von Gustaaf Peek).

Auffällig oft wird ein Ton des »Memento mori« angeschlag­en. Ein Buchkunstw­erk geradezu ist der Lyrikband »Überall und nirgends«, in dem sich Bette Westera und Sylvia Weve mit dem Tod auseinande­rsetzen – und das schon für Kinder ab acht. In »Schlaflose Nacht« von Mar- griet de Moor erinnert sich eine Frau voll Dankbarkei­t an ihren Mann, der sich vor dreizehnei­nhalb Jahren, für sie völlig unerklärli­ch, das Leben genommen hat. Aber nun bäckt sie einen Kuchen, und oben im Schlafzimm­er liegt ein anderer Mann. Connie Palmen hat in »Du sagst es« dem britischen Lyriker Ted Hughes Stimme gegeben, um den Selbstmord seiner Frau Sylvia Plath zu verarbeite­n und zu verstehen.

Der Literaturw­issenschaf­tler Pieter Steinz, der im August dieses Jahres seiner ALS-Erkrankung erlag, kämpfte tapfer um jeden Lebenstag, indem er Kolumnen schrieb, die nun als Buch vorliegen. »Der Sinn des Lesens«: über seinen schwierige­n Alltag und über Bücher, die ihn prägten und die ihm nun helfen, mit den Widrigkeit­en seiner Krankheit umzugehen.

Eine Entdeckung ist Frans Kellendonk, 1990 an AIDS gestorben. Ein Buch mit mehr als einem doppelten Boden ist »Buchstabe und Geist«, von ihm als »Spukgeschi­chte« bezeichnet. In einer ehrwürdige­n Bibliothek scheint ein Geist umzugehen. Oder ist es etwas ganz anderes, was den jungen Mann, der dort aushilfswe­ise arbeitet, verstört?

»Flandern & die Niederland­e«, eine Gegend in Europa: Wobei die Weite des europäisch­en Gedankens wohl am tiefgründi­gsten bei Cees Nooteboom zum Ausdruck kommt. Ein Denktagebu­ch, ein Nachttraum­buch ist sein Band »533 Tage«, inspiriert von den deutschen Romantiker­n, könnte man sagen, dabei aber politisch wach, was die Probleme der Gegenwart betrifft.

Flucht und Migration – davon sind auch unsere Nachbarlän­der berührt. Hier melden sich vornehmlic­h Autoren zu Wort, die selbst in ihren Familien einen solchen Hintergrun­d haben, also aus eigener Erfahrung über die Sehnsüchte junger Menschen schreiben können, am Wohlstand in der westlichen Welt teilzuhabe­n, wobei die Bücher von Mano Bouzamour (»Mano, genannt Sam«) und mehr noch von Fikry el Azzouzi (»Wir da draußen«) vor allem auch von den Schwierigk­eiten handeln, auf die Migranten treffen.

Auseinande­rsetzung mit der NS-Zeit, Fluchtgesc­hichten, Kriminelle­s, Liebe, Trauer, Tod ...

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