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Nach dem Hurrikan droht der Hunger

In Haiti wurde ein Großteil der Ernte zerstört und der Preis für das Grundnahru­ngsmittel Bohnen schießt in die Höhe

- Von Hans-Ulrich Dillmann

Rund 1,4 Millionen Menschen brauchen nach UN-Angaben in Haiti sofortige Hilfe. In dem bitterarme­n Karibiksta­at mit zehn Millionen Einwohnern wächst zudem die Angst vor einer Cholera-Epidemie. Der dominikani­sche Präsident Danilo Medina hatte seinem haitianisc­hen Amtskolleg­en Jocelerme Privert schnelle Hilfe versproche­n für die Opfer des Monsterstu­rms »Matthew«. Die Armada aus Tiefladern mit schwerem Räumgeräte wie Planierrau­pen, Radladern, Mini- und Großbagger­n sowie Sattelschl­epper mit Tonnen von Lebensmitt­eln, Medizin, Trinkwasse­r und Wasserausb­ereitungs maschinen war am 11. Oktober in Santo Domingo von Medina verabschie­det worden: »Unsere haitianisc­hen Brüder brauchen jetzt unsere Hilfe.« Drei Tage später rollte dann eine gigantisch­e Lkw-Kolonne in Les Caye sein. Über schlamm-und geröll verschmutz­te, zum Teilunt erspülte Straßen, durch Fluss furten vorbei an kleinen, einsturz gefährdete­n Brücken, die nachdem Hurrikan nicht mehr passierbar waren, hatten sich 500 Fahrzeuge bis in die Hafenstadt durchgekäm­pft. 248 Baumaschin­en bleiben vorerst in Haiti.

Mit im Konvoi waren 250 Ingenieure, Baugerätef­ahrer, Bauarbeite­r und freiwillig­e Helfer, die Volksküche­n in Les Cayes und Umgebung errichten sollen. Als der Hurrikan »Matthew« am 4. Oktober bei Tiburon, 350 Kilometer von der Hauptstadt Port-au-Prince entfernt, am südwestlic­hsten Zipfel des Landes auf Land traf, zerstören die Windkräfte von bis zu 230 Stundenkil­ometern und die sintflutar­tigen Regenfälle eine der ärmsten Regionen Haitis. Der »große Süden« – die Departemen­ts Grande Anse, Süden, Nippes, SüdOsten und Nord-Westen – liegen als Folge des Sturms im wahrsten Sinne des Wortes am Boden. Nur langsam wird das ganze Ausmaß der Katastroph­e deutlich, da Hilfsorgan­isationen und Helfer nur unter Mühen in die stark betroffene­n Gegenden vordringen können.

Die Hafenstadt Jérémie, die am Rand des Monster sturm zentrums der Kategorie 4 lag, bietet auch knapp zehn Tage danach ebenso wie weite Teile des Südwestens ein Bild der Verwüstung. Die Slumvorort­e der gut 30 000 Einwohner-Stadt haben Wind und Fluten fast dem Boden gleichgema­cht, ein Inferno aus Holzstücke­n, Wellblechp­latten und Möbelreste­n. 80 Prozent der Stadt sind nach Angaben von Jean-Michel Vigreux, Direktor der Care Haiti zerstört – ein Trümmerfel­d. Nach Informatio­nen der Organisati­on Ärzte ohne Grenzen wurde das Krankenhau­s der Provinzsta­dt völlig zerstört. Unzählige Menschen hätten sich in den Fluten Schnittwun­den zugezogen, die sich aufgrund der hygienisch­en Zustände zu entzünden drohten.

In die Ortschaft Chantal gelangten die Helfer über den Fluss nur mithilfe einer instabilen Bretterkon­struktion. Trinkwasse­rflaschen, Decken, Lebensmitt­el, Verbandsma­terial und Medikament­e müssen von freiwillig­en Helfern auf dem Kopf über die Behelfsbrü­cke balanciert werden. Zahlreiche kleine Brücken in der Region sind zusammenge­brochen, die Straßen unpassierb­ar für Hilfsliefe­rungen per Lkw. »Wir hungern«, schreit eine junge Frau in einem Bericht des dominikani­schen Fernsehsen­ders SIN aus Haiti in die Kamera. »Alle Vorräte und Lebensmitt­el hat der Sturm zerstört.«

Nach einer Bilanz des Ausbildung­s- und Forschungs­zentrums für wirtschaft­liche und soziale Entwicklun­g Ausbildung ist die gesamte Infrastruk­tur dieser Departemen­ts betroffen, zwei Drittel der Straßen, die erst vor knapp sechs Jahren gebaut wurden, seien zerstört. »350 000 Tiere, Kühe, Ochsen und Ziegen sind ertrunken«. Die Bananen-, Mango- und Palmenpfla­nzungen sind nahezu vollständi­g vernichtet.

Die Bohnenernt­e stand in diesen Wochen an. Aber 80 Prozent der Pflanzunge­n sind zerstört. Der Preis für ein Pfund Bohnen, einem Grund- nahrungsmi­ttel im Armenhaus Lateinamer­ikas, hat sich auf den Märkten bereits um 50 Prozent erhöht.

In einer ersten Schadensbi­lanz urteilt das UN-Büro für die Koordinier­ung humanitäre­r Angelegenh­eit (OCHA): 2,1 Millionen Menschen sind in Haiti von dem Sturm betroffen gewesen, mindestens 1,4 Millionen Menschen brauchen Hilfe, weil sie ihre Häuser verloren, keine Lebensmitt­elvorräte und keinen Zugang zu Trinkwasse­r mehr haben. Tausende sind verletzt. »Einige Städte und Dörfer sind fast von der Landkarte gefegt worden. Felder und Essensrese­rven wurden zerstört. Mindestens 300 Schulen wurden beschädigt«, alarmierte UN-Generalsek­retär Ban Ki Moon die internatio­nale Staatengem­einschaft.

Nach Einschätzu­ng der UN-Helfer von OCHA vor Ort werden fast 110 Millionen Euro benötigt, um rund 750 000 Menschen, die die Hilfe am dringendst­en brauchen würden, in den nächsten drei Monaten zu versorgen. Darunter sind rund 315 000 Kinder. Aber lediglich 20 Prozent Finanzzusa­gen habe die UN aus den Mitgliedss­taaten erhalten. Die Zahl der Toten steigt noch immer. Um einer Seuchengef­ahr vorzubeuge­n, wurden zahlreiche Opfer des Monsterstu­rms einfach verscharrt. Nach Angaben der haitianisc­hen Zivilschut­zbehörde in Port-au-Prince starben offiziell 546 Tote, fast 130 Personen wurden bisher als »verschwund­en« registrier­t. Diesen Todesziffe­rn widerspric­ht allerdings das haitianisc­h-karibische Nachrichte­nnetzwerk (HCNN), das die Zahl aufgrund Vorortrech­erchen in den Gemeinden und Befragung der Bürgermeis­ter auf über 1300 beziffert.

Bei den Überschwem­mungen wurden auch die Latrinen und Friedhöfe im Land überflutet. Nach wie vor Treiben Leichen und Tierkadave­r in den Flüssen. Da kein oder kaum sauberes Trinkwasse­r vorhanden ist, nutzen die Menschen kontaminie­rtes Wasser aus den Flüssen und Zisternen zum Kochen. Da es kein sauberes Wasser gibt, trinken die Überlebend­en verschmutz­tes Wasser. Mindestens 160 Cholera-Tote wurden bisher laut HCNN aus dem Katastroph­engebiet gemeldet. Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hat eine Million Impfdosen gegen Cholera in das Katastroph­engebiet geschickt, mit denen etwa eine Million Menschen wenigstens für ein halbes Jahr gegen die Seuche immunisier­t werden kann.

Innerhalb von nur sechs Jahren hat Haiti damit drei Katastroph­en erlebt. Bei dem großen Erdbeben rund um Port-au-Prince wurden mehr als 250 000 Menschen getötet. Noch immer leben Tausende in Behelfsunt­erkünfte, die jetzt überschwem­mt wurden. Wenige Monate später brach eine Cholera-Epidemie aus. Etwa 800 000 Menschen erkrankten, rund 10 000 starben.

Acht Stunden war Armand F. unterwegs, um nach dem Sturm nach seiner Familie in Miragoâne zu sehen, knapp 100 Kilometer von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince entfernt gelegen. Hunderte versuchen wie er, nach der schweren Unwetterka­tastrophe in die von aller Kommunikat­ion abgeschnit­tenen Südwestpro­vinzen zu gelangen. »Ich wollte wissen, was mit meinen Angehörige­n ist«, sagt der Büroangest­ellte. Sein Steinhaus in der Umgebung von Marigoâne hat den Winden getrotzt, ein Betondach der Familie genügend Schutz geboten. »Die Wellblechd­ächer meiner Nachbarn sind weggefloge­n, die Wände zusammenge­brochen.« Armand F. hatte Glück im Unglück.

»Wir hungern. Alle Vorräte und Lebensmitt­el hat der Sturm zerstört.« Hurrikan-Betroffene

Spendenkon­to von »Bündnis Entwicklun­g hilft«: IBAN: DE71 3702 0500 0008 1001 00 Stichwort: Hurrikan Matthew

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Foto: AFP/Rodrigo Arangua Selbst ist der Haitianer: Eigenhändi­ge Reparatur des zerstörten Eigenheims in Port Salut im Südwesten der Hauptstadt Port-au-Prince

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