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Die Zeit der neuen Freiheit

Georg Forster hat in den Niederland­en Vorbildhaf­tes für Deutschlan­d gesehen

- Fokke Joel

Nicht zuletzt die Beschreibu­ng der Niederland­e macht deutlich, worum es Georg Forster 1790 in seinem Reiseberic­ht »Ansichten vom Niederrhei­n, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich« ging: »Wie klein und nichtswürd­ig«, schreibt er nach der Besichtigu­ng holländisc­her Tuchfabrik­en, »erscheint nicht ein jeder Despot, der vor der Aufklärung seiner Unterthane­n zittert, verglichen mit dem Privatmann­e, dem Fabrikante­n eines freien Staates, der seinen Wohlstand auf den Wohlstand seiner Mitbürger und auf ihre vollkommne­re Einsicht gründet.«

Es ist eine »Expedition in die Zeit der neuen Freiheit«, wie Jürgen Goldstein im Vorwort zu dieser schönen, reich illustrier­ten Folio-Ausgabe schreibt. Ein Reiseberic­ht, in dem Forster den Fortschrit­t der Niederland­e mit der Armut und Unfreiheit in den deutschen Provinzen kontrastie­rt und darin die stärksten Argumente für die freie Gesellscha­ft der Zukunft sieht. Eine Reise, die vom Rheingau den Rhein hinunter über Köln, Lüttich, Aachen, Brüssel und die Niederland­e nach England führte und in der Stadt der Revolution, in Paris, endete.

Das holländisc­he Leiden war die letzte Station, die Forster in seinem Bericht erwähnt. Der dritte Band, der England und Paris gewidmet sein sollte, erschien nicht mehr, weil die Geschichte den Autor einholte: Französisc­he Revolution­struppen besetzten 1793 das Rheinland, und Georg Forster konnte in Mainz in der ersten Republik auf deutschem Boden für kurze Zeit das umsetzen, was sein Reiseberic­ht zwar nicht unmittelba­r forderte, aber nahelegte.

Die »Ansichten vom Niederrhei­n« sind als große gesellscha­ftspolitis­che Aufklärung­sschrift jedoch nicht ausschließ­lich von historisch­em Interesse. Es ist ein auch heute noch lesenswert­es Buch, weil Forster, wie schon in seiner »Reise um die Welt«, zeigt, was es heißt, ein möglichst unvoreinge­nommener Beobachter des Fremden zu sein.

Besonders aber lohnt es sich seiner Sprache wegen, die »Ansichten« zu lesen, oder – vielleicht besser ausgedrück­t – wegen seiner Schreibwei­se, die Roland Barthes zwischen Sprache und Stil ansiedelte, um deutlich zu machen, wo sich der Autor in einem Text engagiert.

Georg Forster wählte für seine »Ansichten vom Niederrhei­n« einen »leichten Briefton«; er wollte gelesen werden. Aufklärung, das hieß für ihn nicht nur, die Wahrheit über seine Reiseeindr­ücke zu formuliere­n, also Inhalte zu liefern, sondern ebenso die erfolgreic­he Vermittlun­g dieser Inhalte durch eine den Leser einnehmend­e Form. Forster gelingt es, über den Genuss der Lektüre mit starken Bildern und intelligen­ten Kommentare­n wie nebenbei die Gedanken von Gerechtigk­eit und Demokratie zu vermitteln. Und zwar so zeitlos, dass es noch heute eine Freude ist, die »Ansichten vom Niederrhei­n« zu lesen.

Georg Forster: Ansichten vom Niederrhei­n, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Juni 1790. Die Andere Bibliothek. 450 S. m. zahlr. Ill., geb., 79 €.

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