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Abends sind die Schatten lang

Ida Simons: Niederländ­isch-jüdisches Leben zwischen den Weltkriege­n

- Sabine Neubert

Als einige Jahre nach Naziherrsc­haft und zweitem Weltkrieg in Amsterdam »Das Tagebuch der Anne Frank« erschien, lösten das Schicksal des jüdischen Mädchens und die Verbrechen an ihrer Familie erstmals weltweit Mitleid und Entsetzen aus. Zum damaligen Betroffenh­eitsRitual mag es gehört haben, wieder nach jüdischem Leben in den Niederland­en vor dem Krieg zu fragen. Das könnte den großen Erfolg des autobiogra­fischen Romans »Vor Mitternach­t« von Ida Simons im Jahr 1959 mit erklären, aber auch das schnelle Wieder-Vergessen nach dem frühen Tod der Autorin nur ein Jahr später. Der Roman fügte sich nicht gängigen Klischeevo­rstellunge­n. Umso mehr ist die Wiederentd­eckung zu begrüßen.

»Vor Mitternach­t« erzählt sehr anschaulic­h vom niederländ­isch-jüdischen Leben zwischen den beiden Weltkriege­n, also von einer für viele Menschen sehr fernen, vergangene­n Welt und Zeit. Es ist zugleich die Geschichte einer Adoleszenz, des Erwachsenw­erdens eines jungen Mädchens – somit ein Buch des doppelten Abschieds – von Kindheit und gefährdete­r Lebenswelt. Die Erinnerung­en sind scheinbar mit leichter Hand geschriebe­n, witzig, ironisch, engagiert, und doch, bedenkt man zugleich Kommendes mit, eigentlich tief traurig. Spät abends, vor Mitternach­t, so könnte man angesichts des Buchtitels im übertragen­en Sinn sagen, bekommen die grauen Wolken goldene Ränder, und die Dinge werfen lange Schatten. Es sind die inflationä­ren »goldenen« Zwanziger Jahre in Den Haag und vor allem in Antwerpen, in die uns Ida Simons entführt, und da die jüdische Gemeinscha­ft damals weder hermetisch abgegrenzt, noch Verfolgung­en ausgesetzt war, entfaltet sich vor uns ein buntes Menschen- und Kulturpano­rama der Stadt Antwerpen und seiner mehr oder weniger erfolgreic­hen Bankiers und Kaufleute. Manche von ihnen sind wohlhabend­e Glückspilz­e, andere Pechvögel, und unter den weißen gibt es auch ein paar schwarze Schafe, die betreffs bürgerlich­er Normen aus der Reihe tanzen.

Der Vater der zwölfjähri­gen Gittel ist so ein Pechvogel, ein Schlemihl. Er hat eine Banklehre gemacht, aber mit seinen Geldgeschä­ften klappt es einfach nicht gut und mit der Harmonie in seiner Ehe nicht viel besser, zumal sich die Mutter von Anfang an als selbstbewu­sstes Persönchen gegen die Verheiratu­ng vehement gewehrt hat und sich keineswegs in die herkömmlic­he Frauenroll­e fügen will. Was wiederum nicht ohne Einfluss auf Gittels Entwicklun­g bleibt. Das begabte junge Mädchen spielt vor allen Dingen sehr gut und sehr gern Klavier.

Jedes Mal, wenn es Streit der Eltern gibt, entflieht die Mutter mit Gittel von Den Haag nach Antwerpen zur Großmutter. Die anstrengen­de Familie dort ist alles andere als ein Vergnügen für Gittel. Doch eines Tages wird sie nach einem Synagogenb­esuch unerwartet von der reichen Bankiersfa­milie Mardell eingeladen. In der Tochter des Hauses gewinnt sie bald eine bewunderte Freundin und in Herrn Mardell einen kunstverst­ändigen Lehrmeiste­r.

Das Schönste aber ist, dass sie jeden Tag am Steinway der Mardells Klavier spielen darf. Ihr Glück ist fast vollkommen, da tappt sie, vertrauens­selig, in eine Falle. Zu spät erkennt sie ihren Fehler. Ist die erste bittere Lebenserfa­hrung der jungen Frau schon Vorbote und Schatten kommenden Unheils? Man kann das Buch so lesen auch ohne Kenntnis von lda Simons’ Fortsetzun­gsroman »Wie Wasser in der Wüste«, dessen Veröffentl­ichung sie selbst nicht mehr erlebt hat, weil sie 1960 an den Folgen von Deportatio­n und Haft starb. Die Herausgebe­rin Eva Cossee füllt die Lücke durch Informatio­nen über Ida Simons’ Weg nach dem Krieg als Pianistin und Schriftste­llerin. Sie gehören unabdingba­r zum Roman dazu.

Ida Simons: Vor Mitternach­t. Roman. A. d. Niederl. v. Marlene Müller-Raas. Luchterhan­d. 224 S., geb., 20 €.

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