Die DDR und die Ebsdorfer Weltkarte
Paula Fürstenberg erzählt von einer jungen Frau, die nach ihrer Herkunft fragt
Die Autorin wuchs in Potsdam auf, Jahrgang 1987. So alt etwa, besser so jung, ist auch Johanna aus ihrem Debütroman. Die weiß noch nicht, wo sie hin will im Leben, was ihre in der Uckermark lebende Mutter nicht versteht. Wenn sie schon in Berlin ist, warum sie da nicht studiert, wird ihr vorgehalten. Eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin – was soll das?
Da sind sie patzig zueinander und schweigen sich an. Der Anruf der Mutter wird auch mal weggedrückt. Das liebe Kind will eben nicht mehr das Kind sein und wittert überall Bevormundung. Im Grunde haben beide nur Vorstellungen voneinander, wissen nicht, wie es wirklich ist. Dein Vater ist im Westen, hatte die Mutter immer zu Johanna gesagt. Noch vor dem Mauerfall habe er sich davongemacht. Aber dann, auf Seite 15, gibt es eine Nachricht von ihm auf dem Anrufbeantworter. Johanna tippt die Nummer in ihr Handy. So fangen die Verwicklungen an.
Eine Zweijährige so einfach zurückzulassen – Johanna ist gekränkt und mehr noch ihre Mutter. Die will von dem Mann nichts mehr wissen, Johanna aber ist neugierig auf diesen Jens. Viel wird sie indes von ihm nicht erfahren. Krebs im Endstadium: Bald schon kann er nicht mehr sprechen. Ins Krankenzimmer 307 wird Jo- hanna fast täglich gehen und schließlich die Urne des Vaters in den Händen halten. Und es scheint, als ob sie mehr Liebe für ihn hätte als alle anderen – seine alte Mutter Hilde, ihre Halbschwester Antonia (denn Jens hatte noch eine andere Frau), ihre Mutter Astrid schon gar.
Und dann gibt es noch eine interessante Gestalt im Buch: »Selene«, hier nicht die Mondgöttin, sondern auf Seite 19 Kreisgerichtsdirektor, auf Seite 39 Major, auf Seite 53 Oberleutnant, dann Unterleutnant, schließlich IM. Wie kann das sein? Erst auf Seite 118 löst sich das Rätsel der in den Text eingefügten Aktenvermerke.
Was für eine Idee! Was für ein leichthin geschriebener und dabei tiefgründiger Roman! Jens‘ Verschwinden wird nämlich von verschiedenen Leuten ganz unterschiedlich gedeutet. Antonia, die in Bonn aufgewachsen ist, zweifelt nicht daran, dass er verhaftet wurde, als Kopf der Musikgruppe »Die geringelten Strümpfe« der staatsfeindlichen Hetze beschuldigt. Die entsprechenden »Aktenvermerke« wirken tatsächlich so, als wären sie authentisch.
Astrid geht, wie gesagt, von »Republikflucht« aus. Hilde, von der Antonia meint, sie habe den Sohn denunziert, hält beide Versionen für völlig aus der Luft gegriffen. Jens habe gern in der DDR gelebt und sei nach Berlin gefahren, um auf der großen Demonstration zu sprechen, weil es um Reformen des Sozialismus ging. »Hinterher, sagte sie, wollen die Leute eine andere Geschichte haben. Hinterher wollen sie eine dicke Stasi-Akte, je dicker, desto besser. Und wenn sie die nicht haben, behaupten sie es eben, wer kann das schon überprüfen.«
Aber Johanna will es wissen. Wie kann sie bloß an Jens‘ Akte kommen? Plötzlich scheint Reiner, ihr Fahrlehrer, der immer DDR-Witze erzählt, eine dubiose Rolle zu spielen, fällt Verdacht auf ihre Mutter. Johanna brüskiert ihren Freund Karl, über Antonia ist sie sowieso verärgert, weil deren Geschichtsbild so einfach ist, weil sie so gar nichts von der DDR versteht und verstehen will.
Mit Antonia geht sie ins DDRMuseum. »Geschichte zum Anfassen« stand auf der Eingangstür. »Ich sah die Stasi-Wanzen, und die Grenzermützen und die Alumünzen, und bei nichts von alldem kam Erinnerung auf, Erinnerung an eine Erzählung meiner Mutter oder ein Foto von damals … Hier werden künstliche Erinnerungen produziert. Für Menschen, die nicht dabei waren.«
Aber die dabei gewesen sind, wird es irgendwann nicht mehr geben. Und die Nachgeborenen? Paula Fürstenberg führt vor Augen, wie jüngere Leute inmitten vorgefertigter Meinungen und Unwägbarkeiten bestehen könnten: mit Skepsis und Eigensinn. Einen Fuß vor den anderen setzen, auch wenn man nicht genau weiß, was ein Ziel sein könnte. Und das höchste Gut ist Mitmenschlichkeit.
Johanna sammelt Karten. Zum Einzug in ihre Berliner Wohnung hatte ihr die Mutter eine Reproduktion der Ebsdorfer Weltkarte aus dem Mittelalter geschenkt. »Sie war von Mönchen gezeichnet, die sich dabei nicht um die korrekte Abbildung der Welt bemüht hatten ... An den Welträndern hatten die Mönche Fabelwesen gezeichnet, um unbekannte Regionen mit Bildern zu füllen.« Es wird im Buch vieles unbekannt bleiben. Johanna muss sich damit abfinden, in einer »Familie der geflügelten Tiger« zu leben. Irgendwann wird sie ihre eigene, originelle Version von Jens‘ Geschichte erzählen, in der Honeckers persönliche Krankengymnastin Erika eine wichtige Rolle spielt. »Die Geschichte ist erprobt, sie hat sich bewährt. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich eine andere brauchen sollte.«
Paula Fürstenberg: Familie der geflügelten Tiger. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 236 S., geb., 18,99 €.