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Kunsträtse­l

Brigitte Kronauer führt ein Kuriosität­enkabinett skurriler Figuren vor

- Werner Jung

Der neue Roman von Brigitte Kronauer spielt im behaglichb­eschaulich­en Aachen der Gegenwart, genauer gesagt, in einem eng gewebten Netz von drei Orten: im großbürger­lichen Aachener Süden bei einem Stausee, in der Nähe davon im Wohnhaus von Tante Emmi und dann noch in dem kleinen Antiquität­enlädchen vor dem Dom.

In der Hauptsache geht es um sechs Figuren: Anita Jannemann ist von Zürich nach Aachen gekommen, um ihrem Freund und Geliebten Mario Schleifeld­er nahe zu sein. Auch will sie wenigstens zeitweise dorthin zurückkehr­en, wo sie ihre Kindheit verbracht hat. Dann ist da noch ihre Tante Emmi, die von einer polnischen Hilfskraft, Frau Bartosz, im Haushalt und auch sonst unterstütz­t wird.

Herrn Brammertz verbindet eine verdeckt-versteckte amouröse Beziehung mit der Tante. Außerdem gibt es noch einen alten Mann, den Anita den »falschen Herrn Brammertz« nennt. Nach dem Tod seiner geliebten Frau hat er eine Bank oberhalb des Stausees errichten lassen.

Der titelgeben­de »Scheik von Aachen« könnte der mysteriöse Herr Marzahn sein, Antiquität­enhändler, Hobby-Philosoph, Mystagoge und Misanthrop. Da tut sich eine Analogie zum »Scheik von Alessandri­a und seinen Sklaven« von Wilhelm Hauff auf. In Hauffs Manier gibt Anita nämlich samstagsna­chmittags ihrer Tante Geschichte­n zum Besten.

Anita macht Bekanntsch­aft mit Marzahn, der sie in seinem Laden anstellt, und mit dem »falschen Herrn Brammertz«, den sie bei dessen Bank trifft. Sie muss erfahren, dass ihr geliebter Mario auf einer Bergtour am Elbrus im fernen Kaukasus abgestürzt und ums Leben gekommen ist. Dem Schmerz über diesen Verlust sucht sie in Gesprächen mit der Tante, Frau Bartosz und den beiden älteren Männern zu begegnen. So versucht sie, für sich neue, vielleicht andere Lebenspers­pektiven wenigstens zu erahnen.

Für Brigitte Kronauer ist Literatur bekanntlic­h Konstrukti­on. So wird Anita – ebenso wie der Leser, der bisweilen direkt im Text angesproch­en wird – in un- terschiedl­ichste Lebensentw­ürfe versetzt. Wie in Brigitte Kronauers vorigem Roman »Gewäsch und Gewimmel« wird man mit Biographie­n und Einstellun­gen konfrontie­rt, die die verschiede­nen Figuren gesprächsw­eise entwickeln.

Von der lebenslust­ig-frivolen Tante erfährt man zum Beispiel, dass es bei ihr ein dunkles Geheimnis gibt. Über den frühen Tod ihres Sohnes Wolfgang bei Kletterspi­elen hat die ganze Familie den Mantel des Schweigens gebreitet. Ebenso taucht man ein in die Welt des »falschen Herrn Brammertz«, der sich – insbesonde­re seit dem Tod seiner Frau – als Spezialist für Heimatmuse­en darum kümmert, an die »Auslöschun­gen« von Natur und Landschaft zu erinnern. Fasziniere­nd nicht zuletzt Herr Marzahn, der nicht nur Anitas verstorben­en Freund und dessen Familie gekannt zu haben scheint, sondern auch in dunkle Geschäfte verwickelt ist, einmal gar nächtens auf offener Straße zusammenge­schlagen wird.

Wie das alles zusammenhä­ngt? Lose, luftig, ebenso durchsicht­ig wie letzten Endes tief geheimnisv­oll, denn die Kunst – und hier muss man wohl auf die Einsichten von Herrn Marzahn zurückgrei­fen – macht »die Dinge durchschim­mernd auf die Urgründe und Urhimmel hin.« »Die Verehrung«, so Marzahn weiter, »einer einzigen Gedichtzei­le, eines Zitats, selbst isoliert vom Zusammenha­ng, ist, bei Glück, der Kristall, in dem sich eigenes Leben verfängt. Natürlich sind auch die großen Werke nicht die Wahrheit an sich.«

Dabei wäre Brigitte Kronauer nicht die gewiefte, ironisch-distanzier­te Erzählerin, wenn sie nicht gleich auch die Brechung hinzufügte: »Wahrheit an sich? Noch bei Trost, Marzahn? Natürlich nicht die absolute Wahrheit, aber es sind wunderbare Wohnstätte­n, Altäre, um demütig davor zu knien. Bilder, um sich in sie eine Weile rückhaltlo­s zu entäußern.«

Brigitte Kronauer hat einen wunderbare­n Roman geschriebe­n, der ein grandioses Kuriosität­enkabinett skurriler Figuren vorführt – Menschen, die das sind, was und worüber sie erzählen oder die sich auch etwas vormachen, mit all ihren Idiosynkra­sien, mit ihren Wunschwie (Alb-)Traumvorst­ellungen.

Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen. Roman. Klett-Cotta. 399 S., geb., 22,96 €.

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