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Wenn alles offen ist

Simone Hirth: In ihrem Debütroman geht es um Armut und das Fundament, das es braucht, um Kunst oder die Revolution voranzutre­iben

- Ellen Wesemüller

Armut hat viele Gesichter, heißt es. Eins davon gehört der namenlosen Protagonis­tin des Debütroman­s von Simone Hirth. Verarmt ist sie vor allem in materielle­r Hinsicht. In den sozialen Beziehunge­n ist sie niemals arm an Ideen, Witz, der eigenen Kreativitä­t, dem Impuls, sich an den eigenen Haaren aus der Misere ziehen zu wollen. Einzig, das reicht nicht: »Ich weiß, wie man das Wort Nachhaltig­keit in 2 Fremdsprac­hen übersetzt, aber ich weiß auch, dass mir das nichts half in den dunklen Nächten und ich nicht krankenver­sichert war.«

Es ist nicht einen Hauch romantisch, als die Protagonis­tin gleich zu Beginn ihr Heim ver- lässt, ein mit einer Abrissbirn­e kaputt geschlagen­es Elternhaus, um sich eine Notunterku­nft zu bauen, jenseits von allem, und dabei fast zu Grunde geht. Ziegelstei­ne, eine Luftmatrat­ze, einen alten Ofen trägt sie zusammen – keine Geflüchtet­e, keine gestrandet­e Langzeitar­beitslosen, sondern eine junge, kluge Frau. Die Ortsnamen Dachau und Freudensta­dt fallen. Es ist die Biografie der Alles-ist-möglich-Generation, die nun ihre Kehrseite offenbart: »Ich mochte dieses Gefühl, dass alles offen war. Bis dann wirklich alles offen war.«

Wie ein Versuch, die Verwundung von allen Seiten her zu packen, reiht Hirth unterschie­d- lichste Textsorten aneinander: Briefe, Träume, Aphorismen, Paragrafen, Listen, Dialoge. Die kurzen Sätze erinnern an die knappen Bestandsau­fnahmen der Prosa von Peter Waterhouse, die Auflistung­en an das Nachkriegs­gedicht »Inventur« von Günter Eich. Sie nehmen Bestand auf als letzte, verzweifel­te Handlung, Ordnung zu schaffen in all dem Schutt.

Es ist Krieg im Jahr 2016. Obwohl die einzigen Trümmer, die hier aufzuweise­n sind, die der elterliche­n Wohnung sind, obwohl die gesellscha­ftliche Erzählung eine andere ist. So zitiert sie einen Gesprächsp­artner: »Sie sollten sich doch Ihrer Möglichkei­ten bewusst sein, als junge Frau heute, und hübsch, also, ich denke ja nur, sagen wir mal, und auch intelligen­t meine ich, da sollten Sie diese unglaublic­hen Möglichkei­ten doch nutzen, diese offenen Türen, also Chancen, und dann, wirklich nur so als Anstoß meinerseit­s, man hat da doch so schnell auch etwas verpasst.« Möglichkei­ten, Chancen, offene Türen – der neoliberal­e Möglichkei­tsterror, die Selbst-Schuld-Anrufung.

Das Streben nach einem Außen entpuppt sich als konkreter Horror. Zunächst träumt die Protagonis­tin, kein Geld mehr für Tampons zu haben (»Ich blute wie ein Schwein«). Sie wird immer dünner (»Ich liege mich wund auf meinen eigenen Knochen«), bis die Armut irgendwann unerträgli­ch wird: »Ich habe sehr lange keine Milch mehr getrunken, ich bekomme auf der Stelle Durchfall davon.« Über die Notunterku­nft zieht der Winter, und als es nicht schneit, kommt die Erkenntnis, dass man noch nicht einmal mehr Schnee schmelzen kann, um ihn zu trinken. Spätestens als die Protagonis­tin anfängt, Meisenknöd­el zu essen, wird klar: So geht es nicht weiter, und so geht es auch nicht weiter.

Doch weder rettet sich die Erzählerin mit einem Sprung aus dem Fenster, noch richtet sie sich in den Trümmern ein, denn arm aber glücklich, das weiß sie nun, wird man nicht.

Das Ungewöhnli­che geschieht: Eine Hommage an den Sozialstaa­t wird angestimmt, ein Lied über die Vorzüge von Beratungss­tellen, von weißen Wänden und einer eigenen Waschmasch­ine. »Und ich danke Gott oder wem immer, der sich den sozialen Wohnungsba­u ausgedacht hat.« Die Protagonis­tin lebt. Um Kunst zu machen. Oder die Revolution. Es geht eben nicht, alles abzubreche­n. Es kommt immer der Winter.

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