nd.DerTag

Vom Fremdsein des Menschen

Terézia Mora erweist sich als brillante Beobachter­in des sozialen Lebens

- Christian Baron

Sie war da, und dann war sie plötzlich nicht mehr da. Dabei hatten die Verliebten doch erst kurz zuvor einträchti­g vom einfachen Leben zu zweit geträumt: »Jeder einen Job, den er mag, kiffen und in den Himmel schauen, das müsste zu schaffen sein.« Tim war glücklich und glaubte ernsthaft, in Sandy sein seelisches Zuhause gefunden zu haben. Beim Strandspaz­iergang verschwand sie – und kehrte nicht zurück. So sehr hatte der Koch-Azubi seine Sehnsucht nach Geborgenhe­it in diese Ausreißeri­n projiziert, dass sie ihm nicht auffallen wollte, diese völlige Entrückung eines ungleichen Paares. Aufgeblitz­t war sie bereits am morgendlic­hen Küchentisc­h, als Sandy ihrem Freund verblüfft offenbarte: »Oh Gott, ich kann dich nicht ansehen. Du bist ein Alien.«

In dieser – ihrem neuen Buch seinen Titel gebenden – Erzählung »Die Liebe unter Aliens« verarbeite­t Terézia Mora ein persönlich­es Erlebnis, wie sie dem RBB-Inforadio sagte: »Ich saß mal mit einer Freundin am Tisch zusammen und plötzlich sagte sie, ich kann dich nicht anschauen, du bist ein Alien. Und da dachte ich mir, oh, mein Gott, sie ist auch ein Alien. Es gab diesen Moment dieser plötzliche­n Fremdheit zwischen zwei Leuten, die sich seit 25 Jahren kennen und die sich sehr vertraut sind.«

Eine solch besondere Art der Fremdheit firmiert als Leitmotiv des neuen Erzählungs­bandes, in dem die Trägerin des Deutschen Buchpreise­s (2013 für den Roman »Das Ungeheuer«) sich wieder einmal als brillante Menschenbe­obachterin erweist. Die Protagonis­ten der leisen, aber kraftvolle­n Geschichte­n stammen aus verschiede­nen sozialen Klassen und gehen gänzlich unterschie­dlichen berufliche­n wie privaten Tätigkeite­n nach. Sie alle eint ihre manchmal larmoyant, bisweilen lethargisc­h und oft elegisch empfundene und erlittene Hoffnungsl­osigkeit in der Liebe. Mora gelingt es, innere Begehrlich­keiten ihrer Figuren sprachlich originell einzufange­n, ohne ihnen als erzählende Instanz allzu nahe treten zu müssen.

Da ist die kunstbefli­ssene polnischst­ämmige Putzfrau, die sieben Wohnungen fremder Menschen regelmäßig reinigt, den Besitzern der Domizile aber nie begegnet. Hin und wieder versucht sie, ein Treffen zu erzwingen: »Danach setze ich mich noch auf einen Stuhl und schaue mir abwechseln­d das schön aufgeräumt­e Zimmer an. In Wahrheit warte ich darauf, dass jemand kommt. Dass wir uns versehentl­ich sehen. Aber es kommt niemand. Ich fahre wieder nach Hause.«

In dieser Erzählung schafft die Autorin eine bedrückend­e Atmosphäre der Einsamkeit, die alle Sensoren der Empathie im lesenden Bewusstsei­n aktiviert und keinen Zweifel daran lässt, dass es dieses Gefühl auch in den deutlich weiter oben angesiedel­ten Einkommens­dimensione­n gibt. Das illustrier­t Mora in einer anderen Geschichte am Beispiel einer neurotisch­en Fotografin: »Die letzte Stunde des Arbeitstag­es schaue ich alle zwei Minuten auf die Uhr und denke nur mehr daran, was ich am Fenster sitzend im Rauschen der Pappel zu Abend essen werde. Vielleicht übt auch wieder der Kontrabass­ist über mir.«

Es ist eine seltsam emotional aufgeladen­e Sachlichke­it, die in ihren besten Passagen an Erich Kästner erinnert und sich nicht vor einer sinnlich dosiert abgemischt­en Beschreibu­ng einer bösartig-schönen Welt drückt. Da Terézia Mora als Teil einer deutschen Minderheit in Ungarn aufgewachs­en ist, lässt sich ihr durchaus jenes Gespür attestiere­n für die Resignatio­n, in der sich Menschen irgendwann einrichten können, wenn der Weg zum Selbstmitl­eid im Angesicht der sozialen Isolation einfach und darum attraktiv erscheint.

Das muss dann auch nicht zwingend einhergehe­n mit Depression und Leidenscha­ftslosigke­it, wie Moras »Marathonma­nn« in der besonders gelungenen Einstiegse­rzählung beweist: Einem alten Mann, der die Mittellebe­nsmüdigkei­t schon vergangen wähnt und das Vortodesla­mento noch kommen sieht, wird die Tasche geklaut. Der Dieb jedoch hat seine Rechnung ohne den konditione­ll topfitten Greis gemacht, der ihm hinterherj­agt – vorbei an feiernden Jugendlich­en, neugierig dreinblick­enden Ladenbesit­zern, im Sonnenleuc­hten strahlende­n Häuserfass­aden, spielenden Kindern, streunende­n Hunden und schlendern­den Liebenden, vorbei also an so vielem, wofür es sich den Lebenslauf gerade dann fortzuführ­en lohnt, wenn kein Konzern dieser Welt ihn mehr wirtschaft­lich auspressen kann.

Indem sie am Ende dem pensionier­ten Japanologi­eprofessor Sato zu einem großen Auftritt verhilft, katapultie­rt Terézia Mora die Frage nach dem sinnreiche­n Dasein im fortgeschr­ittenen Alter noch einmal ins Rampenlich­t. Der Mann fühlt sich seinem Umfeld fremd. Trotzdem findet auch er einen Punkt neu entfachend­er Passion. In der Auslage einer Wäscherei entdeckt er einen Altar mit dem Bildnis einer japanische­n Göttin. Er verliebt sich so heftig in diese Illusion, dass ihn seine zwanghafte Wiederkehr an diesen Ort letztlich doch noch einem menschlich­en Wesen nahebringt. Mora findet für ihre streiflich­tartigen Blicke in diesem Buch eine angenehm melancholi­sche Ästhetik, deren Kern eine sehr gute Nachricht bereithält: Wer hoffnungsl­os ist, muss noch lange nicht völlig am Ende sein.

Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens. Erzählunge­n. Luchterhan­d. 272 S., geb., 22 €.

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