Vom Fremdsein des Menschen
Terézia Mora erweist sich als brillante Beobachterin des sozialen Lebens
Sie war da, und dann war sie plötzlich nicht mehr da. Dabei hatten die Verliebten doch erst kurz zuvor einträchtig vom einfachen Leben zu zweit geträumt: »Jeder einen Job, den er mag, kiffen und in den Himmel schauen, das müsste zu schaffen sein.« Tim war glücklich und glaubte ernsthaft, in Sandy sein seelisches Zuhause gefunden zu haben. Beim Strandspaziergang verschwand sie – und kehrte nicht zurück. So sehr hatte der Koch-Azubi seine Sehnsucht nach Geborgenheit in diese Ausreißerin projiziert, dass sie ihm nicht auffallen wollte, diese völlige Entrückung eines ungleichen Paares. Aufgeblitzt war sie bereits am morgendlichen Küchentisch, als Sandy ihrem Freund verblüfft offenbarte: »Oh Gott, ich kann dich nicht ansehen. Du bist ein Alien.«
In dieser – ihrem neuen Buch seinen Titel gebenden – Erzählung »Die Liebe unter Aliens« verarbeitet Terézia Mora ein persönliches Erlebnis, wie sie dem RBB-Inforadio sagte: »Ich saß mal mit einer Freundin am Tisch zusammen und plötzlich sagte sie, ich kann dich nicht anschauen, du bist ein Alien. Und da dachte ich mir, oh, mein Gott, sie ist auch ein Alien. Es gab diesen Moment dieser plötzlichen Fremdheit zwischen zwei Leuten, die sich seit 25 Jahren kennen und die sich sehr vertraut sind.«
Eine solch besondere Art der Fremdheit firmiert als Leitmotiv des neuen Erzählungsbandes, in dem die Trägerin des Deutschen Buchpreises (2013 für den Roman »Das Ungeheuer«) sich wieder einmal als brillante Menschenbeobachterin erweist. Die Protagonisten der leisen, aber kraftvollen Geschichten stammen aus verschiedenen sozialen Klassen und gehen gänzlich unterschiedlichen beruflichen wie privaten Tätigkeiten nach. Sie alle eint ihre manchmal larmoyant, bisweilen lethargisch und oft elegisch empfundene und erlittene Hoffnungslosigkeit in der Liebe. Mora gelingt es, innere Begehrlichkeiten ihrer Figuren sprachlich originell einzufangen, ohne ihnen als erzählende Instanz allzu nahe treten zu müssen.
Da ist die kunstbeflissene polnischstämmige Putzfrau, die sieben Wohnungen fremder Menschen regelmäßig reinigt, den Besitzern der Domizile aber nie begegnet. Hin und wieder versucht sie, ein Treffen zu erzwingen: »Danach setze ich mich noch auf einen Stuhl und schaue mir abwechselnd das schön aufgeräumte Zimmer an. In Wahrheit warte ich darauf, dass jemand kommt. Dass wir uns versehentlich sehen. Aber es kommt niemand. Ich fahre wieder nach Hause.«
In dieser Erzählung schafft die Autorin eine bedrückende Atmosphäre der Einsamkeit, die alle Sensoren der Empathie im lesenden Bewusstsein aktiviert und keinen Zweifel daran lässt, dass es dieses Gefühl auch in den deutlich weiter oben angesiedelten Einkommensdimensionen gibt. Das illustriert Mora in einer anderen Geschichte am Beispiel einer neurotischen Fotografin: »Die letzte Stunde des Arbeitstages schaue ich alle zwei Minuten auf die Uhr und denke nur mehr daran, was ich am Fenster sitzend im Rauschen der Pappel zu Abend essen werde. Vielleicht übt auch wieder der Kontrabassist über mir.«
Es ist eine seltsam emotional aufgeladene Sachlichkeit, die in ihren besten Passagen an Erich Kästner erinnert und sich nicht vor einer sinnlich dosiert abgemischten Beschreibung einer bösartig-schönen Welt drückt. Da Terézia Mora als Teil einer deutschen Minderheit in Ungarn aufgewachsen ist, lässt sich ihr durchaus jenes Gespür attestieren für die Resignation, in der sich Menschen irgendwann einrichten können, wenn der Weg zum Selbstmitleid im Angesicht der sozialen Isolation einfach und darum attraktiv erscheint.
Das muss dann auch nicht zwingend einhergehen mit Depression und Leidenschaftslosigkeit, wie Moras »Marathonmann« in der besonders gelungenen Einstiegserzählung beweist: Einem alten Mann, der die Mittellebensmüdigkeit schon vergangen wähnt und das Vortodeslamento noch kommen sieht, wird die Tasche geklaut. Der Dieb jedoch hat seine Rechnung ohne den konditionell topfitten Greis gemacht, der ihm hinterherjagt – vorbei an feiernden Jugendlichen, neugierig dreinblickenden Ladenbesitzern, im Sonnenleuchten strahlenden Häuserfassaden, spielenden Kindern, streunenden Hunden und schlendernden Liebenden, vorbei also an so vielem, wofür es sich den Lebenslauf gerade dann fortzuführen lohnt, wenn kein Konzern dieser Welt ihn mehr wirtschaftlich auspressen kann.
Indem sie am Ende dem pensionierten Japanologieprofessor Sato zu einem großen Auftritt verhilft, katapultiert Terézia Mora die Frage nach dem sinnreichen Dasein im fortgeschrittenen Alter noch einmal ins Rampenlicht. Der Mann fühlt sich seinem Umfeld fremd. Trotzdem findet auch er einen Punkt neu entfachender Passion. In der Auslage einer Wäscherei entdeckt er einen Altar mit dem Bildnis einer japanischen Göttin. Er verliebt sich so heftig in diese Illusion, dass ihn seine zwanghafte Wiederkehr an diesen Ort letztlich doch noch einem menschlichen Wesen nahebringt. Mora findet für ihre streiflichtartigen Blicke in diesem Buch eine angenehm melancholische Ästhetik, deren Kern eine sehr gute Nachricht bereithält: Wer hoffnungslos ist, muss noch lange nicht völlig am Ende sein.
Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens. Erzählungen. Luchterhand. 272 S., geb., 22 €.