nd.DerTag

Ein russisches Volksbuch

Nikolai A. Nekrassows großes Versepos erschien in neuer deutscher Nachdichtu­ng als zweisprach­ige Ausgabe

- Karlheinz Kasper

Wer sich für das Schicksal der russischen Bauern nach der Aufhebung der Leibeigens­chaft interessie­rt, kennt Nikolai Nekrassows Poem »Wer lebt glücklich in Russland?«. Die Übersetzun­g des baltendeut­schen Dichters Rudolf Seuberlich kam 1920 und noch einmal 1947 in Reclams Universalb­ibliothek heraus und wurde in überarbeit­eter Fassung 1965 auch in die zweibändig­e Ausgabe der Gedichte und Poeme Nekrassows im Aufbau-Verlag aufgenomme­n. Fünfzig Jahre später hat Christine Hengevoß, die vor dem Slawistiks­tudium mehrere Jahre in Moskau lebte, das Hauptwerk des revolution­ären Demokraten mit seinen über achttausen­d Versen unter dem Titel »Wer lebt in Russland froh und frei?« neu übersetzt und in eine moderne Sprachform gebracht. Der neue Titel fußt auf dem Leitmotiv (»Komu shiwjotsa weselo, / Wolgotno na Rusi?«), das den Text strukturie­rt.

Nekrassow (1821 – 1877), ein Zeitgenoss­e Turgenjews, Gontscharo­ws, Dostojewsk­is und Tolstois sowie Inspirator zahlreiche­r dichtender Volkstümle­r, begann die Arbeit an seinem letzten großen Werk unmittelba­r nach der von Alexander II. verordnete­n Aufhebung der Leibeigens­chaft 1861. Der Zar ging davon aus, es sei besser, die Leibeigens­chaft von oben aufzuheben als darauf zu warten, dass sie sich von unten abschaffe. Von ei- ner wirklichen Freizügigk­eit der Bauern konnte jedoch auch nach der Reform keine Rede sein. Diese band die Bauern an die Dorfgemein­de, die dem Einzelnen den Landbesitz zuteilte, und an den Gutsbesitz­er, der die Steuerhohe­it behielt. Wem also ging es nach 1861 besser? Das fragen sich im Prolog zum Versepos die sieben zu Frondienst verpflich- teten Bauern aus den Dörfern Kummerow, Leidensted­t, Nothweiler, Kleinelend­sdorf, Brandstade, Flickenhof und Großlöcher­itz: »Wer lebt in Russland froh und reich, wer hat das beste Los?« Sie streiten, ob es der Gutsbesitz­er, der Beamte, der Pope, der Kaufmann, der Minister oder der Zar sei, und ziehen los, um eine Antwort zu finden. Ein Zaubertuch (eine Art Tischlein-deck-dich) versorgt sie auf der Wanderung mit Brot, Wodka, Gurken, Kwas und Tee.

Bettler, Soldaten, Handwerker und »Bastschuhb­auern« befragen sie erst gar nicht. Ein Pope macht ihnen klar, dass er von Bauerngros­chen leben müsse und weder Ruhe noch Wohlstand oder Ehre kenne. In Kusminskoj­e, wo Kirchenfes­t und Jahrmarkt ist, tummelt sich das Volk. Leute ohne Bildung und Geschmack kaufen Kram und Schund, nicht aber die Bücher von Gogol und Belinski. »In Strömen fließt der Alkohol«, es wird eine »trunkene Nacht«.

Anonyme Stimmen, aus der Masse herausgegr­iffen, erklären, dass man nüchtern nicht leben könne: »In Russland hat der Suff kein Maß, doch sag, wer misst in Russland denn die Arbeit und das Leid?« Sogar Depp von Deppenau jammert, dass er sein »Gutsbesitz­erglück« verloren habe. Die Bäuerin Matrjona Kortschagi­na erzählt, wie es den Frauen geht, die neben schwerer Landarbeit Sorge um die Kinder plagt. Der Schlüssel zum Frauenglüc­k sei verloren gegangen. Die Bauern von Dummersdor­f gaukeln dem »Spätling«, dem senilen Fürsten von Erpel, vor, dass die Leibeigens­chaft noch bestehe. Dessen Erben aber denken nach dem Tod des Fürsten nicht daran, die Bauern mit den Auenwiesen zu belohnen. Spontan eingeschob­ene Geschichte­n tragischer Schicksale einfacher Menschen aus dem Volk, wie des Bauern Jakim Nagoi, des Müllers Jermil Girin und des reckenhaft­en alten Saweli, erweitern die Handlung.

Am Rande des Festes in Dummersdor­f tritt der Seminarist Grischa Dobrosklon­ow auf. Er liebt seinen Heimatort und Russland. So hat er sich entschloss­en, den dornenreic­hen Weg zu gehen, an dessen Ende die Erniedrigt­en, Entwürdigt­en, Betrogenen und Geknechtet­en ein glückliche­s Leben finden werden. Vorboten für die künftigen freien Bürger sieht er in den Burlaki, den stolzen Wolgatreid­lern. Sie inspiriere­n ihn zu seinem Russlandli­ed, in dem es heißt, das Herz des Volkes sei trotz aller Sklaverei stark und frei. Aus dem Inneren des Landes werde ein Funke entspringe­n und neuen Geist und Hoffnungen wecken, bis das Volk sich erhebt.

Nekrassow hat seit 1863 an dem Versepos gearbeitet, konnte es jedoch aufgrund seines Krebsleide­ns nicht mehr vollenden. Die Abfolge der Kapitel ist bis heute umstritten, da der Handlungsa­blauf einige Widersprüc­he aufweist. Das tut der einzigarti­gen Größe der Dichtung jedoch keinen Abbruch. Wie die vorangegan­genen Versepen »Die Körbelträg­er« (1861) und »Waldkönig Frost« (1864) ist »Wer lebt in Russland froh und frei?« ein wahres Volksbuch. Der dreitaktis­che Jambus mit reimloser daktylisch­er Endung, die einen Bezug zum Bylinenver­s aufweist, verleiht dem Gros der Verse eine unverwechs­elbare volkstümli­che Färbung. Bei den in den eigenen realistisc­hen Stil eingefügte­n Liedern, Legenden, Märchen, Anekdoten und Rätseln erinnern die Metren und Rhythmen an populäre Werke der russischen und ukrainisch­en Folklore. Die Nachdichtu­ng von Christine Hengevoß berücksich­tigt die Spezifik der beiden Sprachen und wird der stilistisc­hen Vielfalt des Werkes voll gerecht.

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