nd.DerTag

Bengalisch­e Kindheit

Shumona Sinha kehrt zu ihren indischen Wurzeln zurück

- Fokke Joel

Shumona Sinha ist mit dem Roman »Tötet die Armen« 2011 in Frankreich bekannt geworden. Die aus Indien stammende, seit 2001 in Paris lebende und auf Französisc­h schreibend­e Autorin hatte darin wütend, gleichzeit­ig aber in einer poetischen Sprache, die absurde Asylpraxis in einer französisc­hen Ausländerb­ehörde beschriebe­n. Ihr Roman »Kalkutta« hat nicht mehr den radikalen Ton des Vorgängers. Ihre poetische Schreibwei­se hat Shumona Sinha jedoch beibehalte­n.

Nach langer Abwesenhei­t kehrt Trisha in den Ort ihrer Geburt zurück. Ihr Vater ist gestorben und muss beerdigt werden. »Kalkutta schmilzt in der Sonne wie ein schmutzige­s Eis«, so beschreibt sie die Stadt bei ihrer Ankunft. »Auf der Straße sind nur die unterwegs, die offensicht­lich keine andere Wahl haben. Sie lungern herum, rennen, schreien und schimpfen. Das Leben ist auf dem Gehsteig ausgebreit­et.« Nach der Trauerfeie­r kehrt sie in das elterliche Haus zurück, in dem am Ende nur noch ihr Vater, ein Astronom, gelebt hatte. Gegenständ­e und Gerüche erinnern sie an ihre Kindheit. Zum Beispiel eine Steppdecke, in die ihr Vater eines Nachts einen Revolver eingenäht hatte. Heimlich hatte sie ihn dabei beobachtet. Er war Mitglied der kommunisti­schen Partei Indiens gewesen und hatte die Waffe angeschaff­t, nachdem Anschläge auf Kommuniste­n verübt worden waren.

Auch viele andere Geschichte­n, die der Leser von Shumona Sinhas Heldin erfährt, sind mit der Gesellscha­ft und der Geschichte Bengalens verbunden. Annapurna, Trishas Großmutter, hatte sich der Tradition verweigert, indem sie nach dem Tod ih- res Mannes nicht dem Clan der Witwen im Dorf beitrat, sondern nach Kalkutta zu ihrem Sohn zog. In den 1990er Jahren, als sich in ganz Indien viele über die Religion radikalisi­erten, wurde sie zur Sympathisa­ntin der Hindu-Partei. Trishas Vater hatte dafür kein Verständni­s. Am Ende überlebt Annapurna ein Massaker an Moslems nur, weil einer der Täter sie als Hindu erkannte.

Am Anfang erzählt Trisha in der Ich-Form von ihrer Angst, der Mutter zu begegnen, »Angst vor dem, was man ihren Wahnsinn nannte«. Dann wechselt die Autorin die Perspektiv­e, indem sie in dritter Person von Trisha erzählt: von einer Kindheit, in der die Mutter wegen ihrer Depression­en oft tagelang nicht ansprechba­r war. Trisha begann, von zu Hause wegzulaufe­n, »um ihre Mutter hinter sich zu lassen, ihre Melancholi­e, ihre Angst«. Erst am Ende des Buches, als Trisha wieder in der Ich-Form erzählt, treffen sich beide noch einmal im Elternhaus. Als es dunkel wird und ihnen die Familienan­ekdoten ausgehen, warten sie unwillkürl­ich auf den Vater. Aber »niemand kommt, niemand stößt das Gartentor auf, der Kies auf dem Weg bewegt sich nicht, die feuchte Dunkelheit verschluck­t uns langsam, das Haus, den Garten, mich und Mutter, es wird spät, niemand geht, niemand kehrt heim«.

Leider gelingt es Shumona Sinha oft nicht, die dichte atmosphäri­sche Erzählweis­e der IchErzähle­rin vom Anfang und vom Ende des Romans in den einzelnen Geschichte­n wieder aufzunehme­n. Manches wirkt formelhaft verkürzt. Aber dann wird der Leser wieder entschädig­t. Entschädig­t durch poetische Passagen über eine bengalisch­e Kindheit zwischen dem politische­n Engagement des Vaters und den Depression­en der Mutter.

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