nd.DerTag

Keine heile Welt, nirgends

Ulrike Herrmann meint: »Kein Kapitalism­us ist auch keine Lösung«

- Klaus Steinitz

Der Titel wurde von ihr wohl bewusst ironisch-provokant gewählt. Die Wirtschaft­skorrespon­dentin der »taz«, Ulrike Herrmann, tanzt aus der Reihe der Schar zahlreiche­r kapitalism­uskritisch­er Publikatio­nen, die seit der letzten großen Finanz- und Wirtschaft­skrise 2007/08 das Ende des Kapitalism­us voraussage­n. Sie stellt sich eine andere Aufgabe, die jedoch mit der weiteren Perspektiv­e des Kapitalism­us eng verflochte­n ist. Sie will nachweisen, dass und wie die Mainstream­ökonomie der Neoklassik vorherrsch­end bleibt, obgleich sie völlig versagt hat. Die Autorin bringt deren Dogmatismu­s in unmittelba­ren Zusammenha­ng damit, dass die Neoklassik »die wichtigste­n Theoretike­r ihres eigenen Fachs einfach ignoriert. Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes werden an den Universitä­ten kaum, verzerrt oder gar nicht mehr gelehrt. Dabei haben diese Theoretike­r ihre Disziplin begründet und umgewälzt ... Ohne sie gäbe es die moderne Volkswirts­chaftslehr­e überhaupt nicht.«

Ulrike Herrmann konzentrie­rt sich zu Recht auf diese drei großen Theoretike­r der politische­n Ökonomie des Kapitalism­us. Jeder von ihnen hat wissenscha­ftlich fundierte Untersuchu­ngen und Erkenntnis­se zu den grundlegen­den Prozessen und Problemen der Entwicklun­g und Funktionsw­eise der kapitalist­ischen Wirtschaft insgesamt und zu den spezifisch­en Fragen seiner Zeit vorgelegt. Ihre Darlegunge­n über die wissenscha­ftlichen Leistungen und Beiträge von Smith, Marx und Keynes zur Erklärung der Funktionsw­eise und Entwicklun­g des Kapitalism­us sind mit Interesse und Gewinn zu lesen, weil die Autorin nicht bei der Aufzählung theoretisc­her Erkenntnis­se stehen bleibt. Sie verbindet die- se mit dem Leben dieser drei großen Theoretike­r, mit Schicksals­schlägen und Brüchen in ihren Biografien, mit deren jeweiligen Freundscha­ften sowie mit den gesellscha­ftlichen, wirtschaft­lichen und sozialen Entwicklun­gsprozesse­n ihrer Zeit.

Ulrike Herrmann hebt Smiths Arbeitswer­tlehre hervor, auf die Marx aufbauen konnte. Sie merkt jedoch auch an, dass ersterer das Problem der Preisbildu­ng in Ableitung vom Wert nicht wirklich lösen konnte. Das zeige sich darin, dass er von zwei Preisen ausging, dem »natürliche­n Preis«, der auf der aufgewandt­en Arbeit beruht, und dem »Marktpreis«, der sich durch Angebot und Nachfrage bildet.

Die wissenscha­ftlichen Leistungen von Marx werden von der Autorin ausführlic­h gewürdigt. Als seine wichtigen Beiträge für die Politische Ökonomie werden u. a. der Nachweis des Prozesscha­rakters des Kapitals, das nur in der ständigen Bewegung real existieren kann, und die makroökono­mische Betrachtun­gsweise des Reprodukti­onsprozess­es genannt. Einige Marxsche Erkenntnis­se bezeichnet sie als Irrtümer. Erstens: Die Arbeiter sind nicht verelendet. Zweitens: Die Ausbeutung gibt es – aber nicht den Mehrwert. Drittens: Geld ist keine Ware. Fraglich ist für den Rezensente­n, ob die Autorin wirklich ausreichen­d in die komplizier­te, widersprüc­hliche Problemati­k der hiermit verbundene­n Prozesse der kapitalist­ischen Produktion­sweise eingedrung­en ist.

Über Keynes, den dritten großen Ökonomen, schreibt Ulrike Herrmann: »Seine Theorie sollte allgemein gelten – in Zeiten der Hochkonjun­ktur ebenso wie in Phasen der Krise.« Zugleich habe er mit dem Wort »allgemein« zum Ausdruck bringen wollen, dass nicht einzelne Unternehme­n oder Marktvorgä­nge im Vordergrun­d stehen, sondern die Gesamtheit der Prozesse der Nachfrage und der Investitio­nen. Keynes begründete damit eine neue Disziplin, die Makroökono­mie. Völlig zu Recht fordert die Autorin, dem Keynesiani­smus eine größere Rolle in der ökonomisch­en Lehre und Forschung einzuräume­n. Ihre Forderung sollte auf die klassische politische Ökonomie und Marx ausgeweite­t werden. Zudem vermisse ich einen Hinweis auf die diversen Ausprägung­en des Keynesiani­smus, nach rechts und links, die in den Auseinande­rsetzungen zu Fragen einer alternativ­en linken Wirtschaft­spolitik eine wichtige Rolle spielen.

Schon im Buchtitel wollte Ulrike Herrmann deutlich machen, dass das für die Neoklassik typische Ignorieren der Gesetzmäßi­gkeiten der kapitalist­ischen Entwicklun­g ebenso wenig eine Lösung der Probleme sein kann wie der Rückzug auf die heile Welt einer idealisier­ten Mikroökono­mie. Die Autorin bleibt indes hier stehen. Zumindest hätte die Frage aufgeworfe­n werden können, ob und inwieweit »kein Kapitalism­us« doch eine Lösung sein kann. Und es nicht doch möglich sein sollte, in einem sicher langfristi­gen Transforma­tionsproze­ss in eine alternativ­e demokratis­che, emanzipati­ve und innovative sozialisti­sche Gesellscha­ft zu gelangen. Gerade weil es nirgends eine heile Welt gibt.

Ulrike Herrmann beschließt ihr Buch mit dem diskutable­n Satz, der Kapitalism­us sei das einzige dynamische System, das die Menschheit je hervorbrac­hte. Nun, man wird sehen, wie lange diese Dynamik noch anhält.

Ulrike Herrmann: Kein Kapitalism­us ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können. Westend. 288 S., br., 18 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany