nd.DerTag

So viele Namen, so viele Tragödien ...

Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch klagen deutsches Versagen und Verweigern an

- Nora Goldstein

Zu recht haben sie den Alternativ­en Medienprei­s erhalten: Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch. In ihren Reportagen decken sie schonungsl­os Versäumnis­se und Verweigeru­ngen in Erinnerung­s- und Entschädig­ungspoliti­k der Bundesrepu­blik auf. Sie belegen an Einzelschi­cksalen, wie sich der deutsche Staat, der sich als Rechtnachf­olger des »Dritten Reiches« versteht, seiner Verantwort­ung für die Opfer der NSDiktatur nicht nachgekomm­en ist und sich davor vielfach noch heute drückt.

Beispiel 1: Von den ca. 5,7 Millionen sowjetisch­en Kriegsgefa­ngenen in deutschen Lagen starben etwa drei Millionen. Die Überlebend­en erhielten keine Entschädig­ung, erst im vergangene­n Jahr beschloss die Große Koalition, zehn Millionen Euro dafür zur Verfügung zu stellen. Die Bundesregi­erung geht von bis zu 4000 Berechtigt­en aus, die eine Einmalzahl­ung von 2500 Euro erhalten sollen. Das Bundesamt für offene Vermögensf­ragen hat erst etwas mehr als 800 Opfern die entspreche­nden Formulare zugesandt. Beispiel 2: Alle Entschädig­ungsklagen griechisch­er und italienisc­her Opfer (Distomo, Marzabotto) wurden vor bundesdeut­schen Gerichten bis dato abgeschmet­tert, die Bundesregi­erung hatte zudem die Chuzpe, gegen Ansprüche Klage vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f zu erheben. Dergleiche­n Beispiele gibt es etliche. Selbst Bundesbürg­ern, denen Unrecht in NS-Zeit widerfahre­n ist, werden schnöde behandelt.

Schulz/Urbitsch lassen die Bertroffen­en zu Worte kommen. Ilse Heinrich, als »Asoziale« im Frauen-KZ Ravensbrüc­k interniert, sagt: »Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, wie das ist, wenn man kein freier Mensch ist.« Bat-Sheva Szwarc, die das Warschauer Ghetto erlitt, bat bisher vergeblich um eine kleine Rente. So auch Bella Grünwald und Felix Koller, Auschwitz-Überlebend­e. Und die Sintezza Spinetta Weimer, die als Kind durch die Hölle von Auschwitz, Ravensbrüc­k und Bergen-Belsen ging; ihre Eltern und Geschwiste­r überlebten den Antizigani­smus der Nazis nicht. Der Vater der zwangsster­ilisierten Elisabeth Bornstein fiel der »Euthanasie«Mordorgie zum Opfer. Und und und ... So viele Namen, so viele Tragödien, so viele Menschen, denen Deutschlan­d ein zweites Mal schreiende­s Unrecht antut.

Nina Schulz/Elisabeth Mena Urbitsch: Spiel auf Zeit. NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennun­g und Entschädig­ung. Assoziatio­n A. 365 S., br., 24 €.

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