Wüst und schrecklich?
Rudolf Stumberger erhellt blinde Flecken bayrischer Geschichte
»Dies ist ein republikanisches Buch«, verheißt der Prolog. Und eigentlich sollte es den Bayern gefallen, berichtet es doch von der Geburtsstunde des Freistaates. Indes wird es wohl eher missfallen. Denn das Buch beginnt mit der Proklamation einer Revolution. »Ein provisorischer Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat hat sich in der Nacht zum 8. November (1918) im Landtag konstituiert. Bayern ist fortan ein Freistaat«, verkündete der Schriftsteller und Sozialist Kurt Eisner. Die Dynastie der Wittelsberger war zum Teufel gejagt. Dies haben die konservativen »Eliten« und ihr Gefolge Eisner nie verziehen, wie Rudolf Stumberger bemerkt. Während andere Staaten stolz auf ihren Gründungsakt sind und ihn feiern, ist es in Bayern am 7./8. November meist nur kalt, so der Autor.
Der Soziologiedozent an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, der in München lebt und als Journalist auch für »neues deutschland« schreibt, hat einen kritisch-alternativen Stadtführer verfasst, der verschwiegene Geschichte sichtbar macht, sich auf die Spuren sozialer und politischer Auseinandersetzungen begibt und Erinnerungskultur als Bewusstseins- und Wissensstand wie auch Ausdruck von Weltanschauung und Wertekanon diskutiert. Am deutlichsten erkennbar am Beispiel Eisner.
Es hat Jahrzehnte gedauert, ehe ihm München ein Denkmal errichtete. An jener Stelle, an der Bayerns erster Minis- terpräsident am 21. Februar 1919 vom völkisch-monarchistisch gesinnten Leutnant Anton Grav von Arco auf Valley mit zwei Schüssen niedergestreckt worden ist. Eisners Beerdigung gestaltete sich zu einer machtvollen Demonstration. 100 000 Menschen erwiesen ihm die letzte Ehre, dankend für die Errungenschaften während seiner hunderttägigen Amtszeit, darunter den Acht-Stunden-Tag und das Frauenwahlrecht. Wie schon unter den Nazis galt/gilt Eisner unter der Regentschaft der CSU als Unperson. Sie ertrug/erträgt es nicht, dass »ihr« Bayern einer proletarischen Revolution entprang.
Nun gibt es immerhin seit 2011 in der Landeshauptstadt ein Denkmal für Eisner – eine gläserne Skulptur, darauf in weißen Lettern das Zitat: »Jedes Menschen Leben soll heilig sein.« Ein Einschussloch in der Skulptur erinnert an das Attentat. Ansonsten, so Stumbergers Kommentar: »ein unscheinbares Denkmal«. Dahingegen ragt seit 2005 überlebensgroß und silbern glänzend die Statue des Grafen Maximilian von Montgelas in den blau-weißen Himmel, eines königlichen Ministers und bayerischen Patrioten, der ein paar Reformen initiierte. Diese ungleiche Gewichtung von Persönlichkeiten ist Spiegel einer Geisteshaltung.
Als »wüst und schrecklich«, anarchistisch-chaotisch gilt vielen Bayern noch heute das erste Jahr der Republik, vor allem die nach Eisners Ermordung ausgerufene Rätemacht. »Wüst und schrecklich«, korrigiert Stumberger, war jedoch nicht diese. Wüst und schrecklich waren die vorangegangenen vier Kriegsjahre und der weiße Terror gegen die Räterepublik. Wüst und schrecklich waren die Jahre des Aufstiegs und der Herrschaft der Nazis in Bayern.
Stumbergers Stadtführer ist nicht nur eine Hommage an »einen großen emanzipatorischen Versuch«, dessen Zerschlagung die Schleusen für die braune Bewegung öffnete: ewige Mahnung an Linke und Demokraten. Der Autor berichtet ebenso über NS-Verbrechen in Bayern und das späte Gedenken der Opfer. Er informiert über den »Neuanfang« nach 1945 mit NS-Altkadern, an das KPD-Verbot 1956 sowie die Schwabinger Krawalle 1968 und über vieles andere mehr.
Ein in der Tat alternativer Stadtführer, der die Adressen der Münchner Schickeria konsequent ignoriert und zudem im Gegensatz zu konventionellen umrahmt ist von konträren Biografien, wie die des im Jahr 1900 in München geborenen späteren »SS Reichsführers« Heinrich Himmler und eines seiner Opfer, Walburga Weber.
Rudolf Stumberger: München ohne Lederhosen. Ein kritisch-alternativer Stadtführer 1918 – 1968. Alibri. 199 S., br., 16 €.