6 Stunden Geduld
Nach dem LAGeSo-Chaos im vergangenen Jahr harren Flüchtlinge noch immer lange aus – aber nicht mehr sichtbar
Berliner Flüchtlinge warten immer noch – jetzt im ICC.
Trotz Termins um 8.30 Uhr wartet Hamed Noori fünf Stunden, bis er eine Sachbearbeiterin spricht. Die meiste Zeit verbringt der afghanische Flüchtling im ehemaligen Kongresszentrum ICC. In der Unterführung zwischen U-Bahn und ICC räkelt sich ein Mann in seinem Schlafsack. Unweit von ihm liegt eine zweite aufgerollte Schlafmatte. Es stinkt nach Urin. Oben scheint die Sonne. Auf einer schmalen Bank schläft ein weiterer Mann, hinter ihm sitzt ein Pärchen mit Rucksäcken, das auf einen Bus wartet. Über die viel befahrene Straße eilt Hamed Noori, enge Jeans, T-Shirt, dünne Sweatshirtjacke, eine weiße Dokumententasche in der Hand. Aus ihr kramt er vor dem Absperrgitter einen roten Din-A-4Zettel hervor – seine Eintrittskarte für das ehemalige Kongresszentrum, das seit August als vorgelagerter Standort des Berliner Flüchtlingsamtes genutzt wird. Es ist 8.30 Uhr.
Seit Mai müssen alle Flüchtlinge im Asylprozess, die einen Termin beim Landesamt fürFlüchtl ing sange legen heiten(LAF) in Berlin haben, sich morgens zunächst am ICC melden, bevor sie bei einem Sachbearbeiter an der Turmstraße vorsprechen können. Dort harrten im vergangenen Jahr sommers wie winters teils nächtelang und über Tage hinweg mehrere hundert Wartende vor den Toren des Landesamts für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) aus, das damals noch für Flüchtlinge zuständig war, um eine Wartenummer zur Registrierung zu erhaschen. Im Sommer fehlten Schatten und Wasser, im Winter Heizung und Decken. Um das in diesem Jahr zu vermeiden, wich der Senat auf das ICC aus. Die Wartezeit hat sich seit dem Frühjahr nicht verkürzt, die Flüchtlinge können sich aber immerhin setzen.
700 bis 1300 Menschen werden laut Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales pro Tag am ICC vorstellig. Rund ein Drittel könne ihre Anliegen direkt im ICC erledigen, etwa einen Krankenschein ausstellen lassen. Alle anderen werden einmal durch das Kongresszentrum durchgeschleust und – meist mehrere Stunden später – auf der Rückseite des Gebäudes von Bussen abgeholt und zur Turmstraße gefahren. Ein Flüchtling, der selbst schon mehrere Male das Prozedere mitgemacht hat, sagt: »Wenn man zum ICC gehen muss, sollte man ein Bett mitnehmen, um ein langes Schläfchen zu machen.« 1. Einlass am Gitter Vor dem Eingang des ICC liegt ein großer freier Platz, umgeben von breiten Straßen. Nachdem hier im Juli Flüchtlinge gezeltet hatten, um gegen die Verlegung von einer Massenunterkunft in die nächste zu protestieren, sperrte das Flüchtlingsamt den Platz weiträumig ab. Am Eingang stehen Wachleute, die nur diejenigen hindurch lassen, die eine Einladung des LAF vorzeigen können. Weil Noori einen roten Din-A-4-Zettel hat, winken ihn die Sicherheitsleute durch und zeigen nach rechts. Noori kennt den Ablauf. 2. Vor der Tür des ICC Am Eingang des Gebäudes stehen Menschen und warten darauf, ins Gebäude gelassen zu werden. Noori ist verwundert, schon hier in der Schlange stehen zu müssen, aber sie ist kurz, schnell ist er drinnen. 3. Hinter der Tür Im Foyer zeigt dann der erste Blick, was Nooris Beschäftigung in den kommenden Stunden sein wird – Warten: Rund 100 Menschen stehen in mehreren Reihen in Drängelgittergängen, durch die sie sich nur im Slalom hindurchschieben können. Manche setzen sich auf den Boden, einige husten. In Gruppen werden sie von Sicherheitsmännern in die hinter einer weiteren Reihe von Türen gelegene Eingangshalle gelassen. Die Lotsen-Aufgabe, für die zu Konferenzzeiten hier Hostessen zuständig waren, wird zu Landesamtszeiten von Wachleuten erledigt. Die tragen auch Uniformen, geben aber keine Auskünfte. Noori ist erst beim dritten Schwung dabei. Es ist 9 Uhr. 4. Am Schalter In der Mitte der Halle sitzen auf einer langgezogenen Schalterinsel die einzigen sichtbaren Mitarbeiter des LAF. Noori stellt sich in die Warteschlange. Kurz darauf winkt ihn ein Sicherheitsmann heran und positioniert ihn vor einem Schalter, der gleich frei wird. Der LAF-Mitarbeiter fragt freundlich nach Nooris Ausweis und Terminzettel. Im Computer prüft er, ob Noori angemeldet ist. Dann klebt er ihm ein Papierband um den Arm. Sobald sich Noori vom Schalter abwendet, winkt ihn ein Wachmann weiter: »Gelbes Band, gelber Bus.« Rechts des Schalters sind verschiedenfarbige Schilder aufgestellt, auf die lächelnde Busse gezeichnet sind. Der gelbe Bus folgt dem lilafarbenen. Hinter den Schildern führt eine Treppe hinab zu Sitzbereichen wie in einer Abflughalle am Flughafen. Es ist 9.10 Uhr. 5. Warten auf den Bus Noori sitzt. Er verstaut seinen Terminzettel in seiner Dokumententasche, holt sein Handy hervor und übt Vokabeln. Gerade sind Werkzeuge dran. »Schraubenzieher«, liest er, schaut sich die Abbildung an, versucht, das Wort richtig auszusprechen. Noori kommt aus Herat, einer Stadt im Westen Afghanistans. Seit fünf Monaten ist er in Deutschland und wartet darauf, als Flüchtling anerkannt zu werden. Fünfmal war er bereits am ICC, mal im Abstand von zehn Tagen, mal von zwei Monaten. Woran das liegt, weiß er nicht. Am Ende jedes Termins bekommt er die Aufforderung für sein nächstes Vorsprechen direkt in die Hand gedrückt. Die Uhrzeit lautet in der Regel 8.30 Uhr. Wann man dann tatsächlich beim Sachbearbeiter ankommt, ist kaum absehbar. Es gibt weder eine Online-Terminvergabe wie bei den Bürgerämtern, noch kön- nen sich die Flüchtlinge die Zeiten aussuchen oder sie ändern. Die nehmen es erstaunlich gelassen.
Ein Mann mit Hut läuft mit seinem kleinen Sohn an der Hand vorbei. Der Sohn trägt eine Sonnenbrille. Zwei junge Frauen unterhalten sich auf Türkisch. Eine hat ein Deutschlernheft dabei und liest ab und zu darin. Ein Kind weint. Eine Mitarbeiterin des LAF drückt ihm eine Banane und einen Schokoriegel in die Hand. Beides können sich wenig später auch die übrigen Wartenden abholen, außerdem gibt es Wasser im Getränkekarton. Es ist 10.15 Uhr.
Plötzlich wird es laut. Mehrere Sicherheitsmänner machen sich auf den Weg zur lilafarbenen Bushaltestelle und scheuchen die Wartenden auf. Die stellen sich in Zweier- und Dreierreihen ordentlich auf, wie in der Grundschule, wenn es nach der Pause zurück in den Klassenraum geht, dann laufen sie los, in Richtung des rückseitigen Ausgangs, vermutlich zu den Bussen.
Noori versucht zu schlafen. Er legt seinen Kopf in die Hände und beugt sich nach vorne. Kurz bleibt er so, dann steht er auf, geht an den Rand der Sitzreihen und macht ein paar gymnastische Übungen. Dann holt er sich eine Banane. Gefragt, warum das so lange dauert, sagt ein Wachmann: »Das dauert mal eine halbe Stunde, mal zwei, aber manche warten auch fünf Stunden. Draußen stehen die Busse, ich weiß nicht, warum es nicht los geht.« Eine Gruppe Menschen läuft vorbei, Alte mit Gehstöcken, Jüngere im Rollstuhl, eine Schwangere. Ein Mann mit Krücken humpelt hinter ihnen her.
»Schon 11 Uhr?! Um eins fängt mein Deutschkurs an. Ich darf da nicht fehlen!« ärgert sich Noori. Er ist 21, zu Hause hat er Jura studiert. Als Afghane darf er keinen Integrationskurs besuchen – das dürfen nur Flüchtlinge mit einer Bleibeperspektive von 50 Prozent. Mehr als die Hälfte der Asylanträge von Afghanen werden aber abgelehnt. Deshalb lernt Noori Deutsch per Youtube. Seit Kurzem besucht er außerdem an zwei Tagen pro Woche einen Deutschkurs an der Uni, der Voraussetzung für ein Studium in Deutschland ist. »Der Integrationskurs wäre besser, ich würde schneller vorankommen.« Ob man nicht einfach aus dem ICC rausgehen könnte und eigenständig zur Turmstraße fahren? »Das geht nicht.«
Nooris Telefon klingelt. »Alles gut?« fragt er auf Deutsch in den Hörer, dann spricht er weiter in seiner Muttersprache, Dari. Ein älterer Sicherheitsmann herrscht einen Flüchtling an: »Hier ist gelb, da drüben ist rot. Du bist gelb, also sitzt du hier!« Die Roten hier, die Gelben dort. Wer in der Halle herumläuft, wird alle paar Schritte von Sicherheitsmännern angesprochen und gebeten, zum Platz zurück zu gehen.
Dann plötzlich die erlösenden Worte. »Der gelbe Bus«, sagt ein Wachmann, und schnell stehen alle auf, sammeln ihre Unterlagen ein, Eltern legen ihr Baby in den Kinderwagen. Es ist 13 Uhr. 6. Die Zweier- und Dreierreihen Die Gelbbänder schaffen es nicht so schnell wie ihre lilafarbenen Vorgänger, sich ordentlich aufzustellen. Doch die Wachleute lassen die Gruppe nicht starten, so lange alle durcheinander stehen. Man sortiert sich ein wenig, dann geht es los bis ans Ende der Halle. Dort führt eine Tür in eine Durchfahrt. 7. In der Durchfahrt Hier bleiben alle in einer langen Reihe stehen. Durch eine Tür ist Tageslicht zu sehen, außerdem Menschen, die in einen Bus steigen. Als der weggefahren ist, darf die gelbe Gruppe weitergehen. An der Tür werden die gelben Armbänder kontrolliert. Einer hat ein lilafarbenes, wird aus der Gruppe gefischt und an den Rand gestellt. Draußen sitzen, stehen und laufen etwa zehn Sicherheitsmänner um ungefähr 40 Flüchtlinge herum. Einige tragen grüne Warnwesten mit der Aufschrift »Fahrgastinformation«. Informiert wird hier aber niemand. Ein leerer Bus fährt vor, wieder wird die Bändchenfarbe kontrolliert, dann dürfen alle einsteigen. 8. Im Bus Der Bus ist voll besetzt. Am Schillertheater und dem Ernst-Reuter-Platz vorbei geht es nach Moabit an die Turmstraße. Jeden Tag fahren 17 bis 30 Busse die etwa 6,5 Kilometer lange Strecke. Die Fahrt dauert ungefähr 15 Minuten. Es ist 13.20 Uhr. 9. An der Turmstraße Nach der Ankunft gehen die Flüchtlinge durch das Gitter am Eingang, durchqueren ein fast leeres Wartezelt, können sich dort Wasserpackungen nehmen und draußen auch Sandwiches. Dann müssen sich wieder alle in Zweier- und Dreierreihen aufstellen. Gemeinsam laufen siebegleitet von Wach männern zum Eingang des Lande samts für Flüchtlings angelegenheiten, das vorübergehend noch hier untergebracht ist. 10. Am Schalter Drinnen wartet eine Schlange vor einem Schalterhaus. Die Neuen reihen sich ein. Am Schalter angekommen wird das Armband abgeschnitten, und die Flüchtlinge erhalten nun endlich eine Wartenummer. Dann darf jeder selbständig zum Wartesaal gehen. Noori weiß, wo er hin muss: in einen weißen Container schräg gegenüber des Seitenausgangs. 11. Im Wartesaal Dort ist es voll. Auf Bildschirmen werden im Wechsel je rund zehn Wartenummern angezeigt. Um die eigene Nummer nicht zu verpassen, starrt Noori fast ununterbrochen auf einen der Bildschirme. Daneben führt eine Tür zur Toilette. Eine Mitarbeiterin des LAF klebt einen handgeschriebenen Zettel daran: »Tür kaputt – nicht abschließen.« Kein Ton, keine Durchsage macht darauf aufmerksam, wenn eine neue Nummer angezeigt wird. Einmal steht Noori schon. Die 1549 erscheint. Dann fällt ihm aber auf, dass seine Nummer die 1459 ist. Er setzt sich wieder.
Noori zeigt seine Uni-Zertifikate, eine Bescheinigung über seine Englischkenntnisse. »Es ist so schwer, eine Arbeit zu finden«, sagt Noori. Er würde auch kochen oder putzen. Über ein Praktikum bei einem Anwaltsverein wagt er gar nicht nachzudenken.
Als seine Nummer doch erscheint, meldet sich Noori bei einer Frau, die an einem kleinen Beistelltischchen neben der Tür sitzt. Sie sucht seinen Namen und die Nummer in einem Tablet-PC und nennt ihm die Nummer des Zimmers, in dem er sich melden soll. 12. Auf dem Flur Auf den Aufzug will Noori gar nicht erst warten und springt die Treppenstufen bis in den dritten Stock hoch. Dort sind die Flure voll. Die Tür des Zimmers, in dem er sich melden soll, steht offen. Noori blickt herein und fragt höflich, ob er eintreten darf. Er darf. Er muss seinen Ausweis abgeben und soll auf dem Flur auf die Dolmetscherin warten. Es ist 14.30 Uhr.
Als die kommt, geht es ganz schnell. Er füllt diverse Anträge aus, unter anderem, um künftig sein Geld direkt aufs Konto zu bekommen. Mit einer weißen Plastikkarte muss er zurück ins Erdgeschoss gehen. 13. Am Geldautomaten Zwei Automaten sind in die Wand am Rande eines Wartebereichs eingelassen. Vor jedem stehen nur zwei Menschen. Noori ist schnell an der Reihe, schiebt die weiße Karte in den Schlitz. 153 Euro werden ihm ausgezahlt, die Karte schluckt der Automat. Es ist 14.55 Uhr. Nach sechseinhalb Stunden ist er fertig. Dieses Mal hat er es geschafft, alle Anliegen zu erledigen. Das ist nicht immer so. Oft musste er am nächsten Tag wiederkommen.