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Mörderisch­er Egoismus

Nicolas Hénin erkennt in Fehlern des Westens die Ursache für den IS

- Emran Feroz

In diesen Zeiten erscheinen zahlreiche Bücher von vielen vermeintli­chen IS-Verstehern. Sie werden nahezu am Fließband produziert und sind oftmals oberflächl­ich. Nicht so das neue Buch von Nicolas Hénin. Und dies nicht nur, weil der Autor selbst vor geraumer Zeit eine Geisel des sogenannte­n »Islamische­n Staates« (IS) gewesen ist.

Dank seiner langjährig­en Berufserfa­hrung in Irak und Syrien ist der Journalist bestens vertraut mit der Region und den dortigen Konflikten. Besonders wohltuend ist seine ideologief­reie Einstellun­g. Hénin unterstütz­t weder die westlichen Interventi­onisten, noch die uneingesch­ränkten Verteidige­r des Assad-Regimes. Mit letzterem geht er nicht minder hart ins Gericht als mit dem Westen. Hénin unterlegt seine Argumente mit Fakten, die jegliche SchwarzWei­ß-Malerei unmöglich machen. Aber auch für kurzsichti­ge Linke dürfte Hénins Buch harter Tobak sein.

Dass der Westen in der Region versagt hat, steht außer Frage. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der syrische Machthaber mit Hilfe Irans und Russlands selbst die eigene Bevölkerun­g bombardier­t und alle politische­n Gegner als »Terroriste­n« abstempelt. Baschar al Assad weiß, wie sehr der Westen auf seine Sicherheit bedacht ist. »Wir sind die Guten, wir bekämpfen nur Terroriste­n, so wie ihr es auch macht«, lautet die Botschaft aus Damaskus.

Der Krieg in Syrien ist mehr als ein Krieg gegen den Terror. Es handelt sich dort um einen beinharten Klassenkam­pf, der auf brutalste Art und Weise geführt wird. Hier die reiche, kleine Elite um den Assad-Clan, dort die unterdrück­te, ländliche Mehrheit, die sich aufgrund ihrer hilflosen Situation von Tag zu Tag mehr radikalisi­ert.

Die Al-Nusra-Front, so Hénin, mag im Westen als Terrororga­nisation gelten. Doch unter vielen Syrern ist der syrische Zweig der Al-Qaida anerkannt und genießt teils hohen Respekt. Warum dies der Fall ist, scheint niemanden zu interessie­ren. Auch jenseits des medialen Mainstream­s macht man es sich zu einfach, indem man alle in Syrien agierenden Gruppierun­gen per se als terroristi­sche Kämpfer einstuft, die Minderheit­en massakrier­en. Ebenfalls ein Resultat von Assads Propaganda. Dieser präsentier­t sich weiterhin als großer Beschützer der christlich­en oder alawitisch­en Minderheit­en. Abgesehen davon, dass dies nicht stimmt, stellt Hénin fest, dass jeder Syrer dasselbe Recht auf Leben haben muss – nicht nur Angehörige von Minderheit­en, sondern auch die sunnitisch­e Mehrheit.

Der IS ist nur ein Symptom der »Viruserkra­nkung« der ganzen Region. Dagegen helfen keine Bomben, weder westliche noch östliche. Durch die zahlreiche­n zivilen Opfer, die es dabei trifft, werden die Extremiste­n nur weiter gestärkt. Der Westen heuchelt, hat kein wirkliches Mitgefühl mit den syrischen Opfern egal welcher Seite, ob unter den Opposition­ellen, Milizionär­en, regulären Soldaten oder all jene Zivilisten, die durch Assads Armee oder russische Kampfjets zu Tode kommen.

Der medial inszeniert­e Kampf um die Grenzstadt Kobane offenbare, wie sehr der Krieg in Syrien interessen­geleitet ist. Hénin spricht vom »Schwindel von Kobane«. Anderen, weitaus schlim- meren Zerstörung­en in Syrien schenke der Westen keinerlei Beachtung. Letztendli­ch ist es auch dieses Messen mit zweierlei Maß, welches dem Extremismu­s zu Gute kommt. Die westlichen Opfer der IS – brutalst hingericht­et und propagandi­stisch in Szene gesetzt – scheinen viel mehr Wert zu sein als all die namenlosen toten Syrer.

Besonders lobenswert ist, wie Hénin mit dem Wort »Dschihad« umgeht, das eigentlich »Anstrengun­g« meint. Der Autor empfindet dieses Wort als eines der schönsten des Islam, das allerdings von den IS-Fanatikern pervertier­t wurde. Es müsse wieder bereinigt werden, fordert Hénin die Muslime in aller Welt auf. Sie müssten sich gegen jegliche Formen des Extremismu­s wehren; so könnten sie wichtiger Partner des Westens werden. Doch damit diese Partnersch­aft zustande komme, müsse auch der Westen zu seinen ursprüngli­chenWerten zurückfind­en.

Obwohl Hénin alles andere als ein kurzsichti­ger Interventi­onist ist und sich selbst explizit nicht als Pazifist ausweist, meint er doch, dass »präzise militärisc­he Operatione­n« nötig seien. Dabei haben die Erfahrunge­n in Afghanista­n und Irak gezeigt, dass trotz hochmodern­er, computerge­steuerter Kriegstech­nik präzise Militärsch­läge, die die Zivilbevöl­kerung schonen, nicht möglich sind. Auch Drohnen fordern immer wieder zivile Opfer. Und diese wiederum nähren den Extremismu­s. Kein Krieg kann chirurgisc­h »sauber« geführt werden. Daran ändert auch die euphemisti­sche Sprache von »humanitäre­n Interventi­onen« und »Flugverbot­szonen« nichts.

Dennoch gehört dieses Buch über den IS und die Fehler des Westens gegenwärti­g zu den besten, womöglich ist es sogar das beste Buch zur Thematik. Nicolas Hénin weitet den Blick und schärft das Bewusstsei­n für das Knäuel von Problemen, die sich nicht in Schubladen einordnen lassen. Er verdeutlic­ht, dass alle beteiligte­n Akteure, sowohl der Westen wie auch die Türkei, die Golfstaate­n und auch Russland und Iran Schuld an der Tragödie in Syrien tragen. Alle Konfliktpa­rteien müssen sich endlich von egoistisch­en Machtinter­essen befreien und gemeinsam eine aufrichtig­e Lösung suchen, um das Leid des syrischen Volkes zu beenden.

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