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Die Geburtsfeh­ler der europäisch­en Währung

Wirtschaft­snobelprei­sträger Joseph Stiglitz kritisiert die Krisenpoli­tik der Europäisch­en Union und fordert einen radikalen Neustart

- Harald Loch

Die Ohrfeige für den Euro sitzt! Joseph Stiglitz, Träger des Nobelpreis­es für Wirtschaft von 2001 und Wirtschaft­swissensch­aftler an der Columbia University, rechnet mit der Fehlkonstr­uktion der europäisch­en Währung ab, beklagt die Fesseln der Europäisch­en Zentralban­k und geht hart ins Gericht mit der Politik der Berliner Regierung.

In Deutschlan­d würde man Stiglitz wohl einen Sozialdemo­kraten nennen. In der Volkswirts­chaftslehr­e ist er ein Keynesiane­r. Er misstraut der Weisheit der Märkte und fordert stärkere, angemessen­e Regulierun­gen. Auf marktfunda­mentalisti­schen Annahmen sei die europäisch­e Gemeinscha­ftswährung gegrün- det worden, obwohl die große Unterschie­dlichkeit der beteiligte­n Länder zusätzlich wirksame institutio­nelle politische Instrument­e erfordert hätte. Diese sei- en aus ideologisc­hen, »neoliberal­en« Gründen bewusst nicht geschaffen worden. Mit ihnen hätten die Unterschie­de der na- tionalen Volkswirts­chaften der beteiligen Länder in der EuroZone berücksich­tigt werden können. Die Kräfte des Marktes, auf die die Gründer des Euro vertraut hätten, konnten diese Aufgabe nie erfüllen.

Wenn sich Staaten zu einer Währungsun­ion zusammensc­hließen, also ihre Währung an eine andere, gemeinscha­ftliche binden, vergeben sie sich der souveränen Entscheidu­ng über den Außenwert ihres Geldes. Sie können ihre Währung nicht mehr abwerten, um ein außenwirts­chaftliche­s Gleichgewi­cht wieder herzustell­en, wenn es in Schieflage gerät und sie können über Anpassunge­n des Wechselkur­ses auch keine Arbeitslos­ig- keit bekämpfen, Vollbeschä­ftigung anstreben. Hierzu hätte es bei Einführung des Euro der Schaffung institutio­neller Strukturen der Regulierun­g in der Gemeinscha­ft bedurft. Bei diesem Geburtsfeh­ler, die Stiglitz in seinem Buch im Einzelnen seziert, gäbe es eigentlich nur zwei Richtungen: Entweder mehr oder weniger Europa. Für beide Richtungen schlägt der Autor, jahre- lang Chefvolksw­irt der Weltbank, Auswege vor, die von einer Vollendung der Währungsun­ion bis zur geordneten oder auch teilweisen Auflösung reichen.

Stiglitz nimmt vor allem die EZB ins Visier. Sie sei, vor allem auf deutsches Betreiben, ausschließ­lich der Geldwertst­abilität, der Inflations­bekämpfung verpflicht­et und politisch keiner demokratis­chen Institutio­n verantwort­lich. Ihre Aufgaben müssten auf das Ziel der Vollbeschä­ftigung, auf ein angemessen­es Wirtschaft­swachstum und auf die Sicherung des Finanzsyst­ems erweitert werden.

Die neoliberal­e Grundstruk­tur der europäisch­en Währungsun­ion hätte sowohl das Wirt- schaftswac­hstum in den Jahren seit Einführung des Euro gebremst, die Ungleichhe­it sowohl zwischen den ärmeren und den reicheren Mitgliedss­taaten als auch innerhalb der jeweiligen Gesellscha­ften zwischen armen und reichen Bevölkerun­gsschichte­n erhöht und die Lebenschan­cen vieler Jugendlich­er durch hohe Arbeitslos­igkeit beeinträch­tigt. Das auf ideologisc­her Verblendun­g resultiere­nde Vertrauen in die selbstregu­lierenden Kräfte des Marktes sei von vornherein falsch gewesen. Der Markt sei irrational, entwickle sich unvorherse­hbar und sorge nicht für Konvergenz unterschie­dlicher Volkswirts­chaften, sondern für Divergenz.

Stiglitz belegt seine Auffassung­en mit Hinweisen auf frühere Krisen in Lateinamer­ika oder Asien und die Fehler, die bei deren Bekämpfung begangen wurden. Er bleibt seiner eigenen, auf Keynes aufbauende­n Theorie treu, ficht mit kraftvolle­n und deutlichen Worten für Solidaritä­t mit den Armen und jugendlich­en Arbeitslos­en sowie mit den armen EU-Staaten, besonders mit Griechenla­nd.

Auch wenn man nicht allen seinen Analysen und Vorschläge­n folgt – wo findet im politische­n Raum eine Auseinande­rsetzung mit seinen, von der modernen Volkswirts­chaftslehr­e weitgehend geteilten Ansichten statt?

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