Sei, wie du bist
Nari Hong: Wie ein Mann im Rollstuhl auf seine Tochter stolz sein kann
Lebenskunst: Kinder ab vier, für die dieses Buch gemacht ist, werden mit diesem Begriff nichts anfangen können. Später vielleicht. Zunächst einmal dürfen sie sich von der freundlichen Stimmung dieser Geschichte umhüllen lassen. Alles ist gut zwischen dem Vater und der kleinen Tochter, auch wenn der Erwachsene sich immer wieder Sorgen macht.
»Mein Papa kann nicht laufen. Das ist schon so, seit er ein Baby war. Oft sagt er zu mir: ›Es tut mir leid.‹« Das Bild auf der ersten Seite – die Autorin hat ihr Buch auch selbst illustriert – zeigt einen Mann im Rollstuhl. Seine Beine scheinen etwas kurz zu sein, aber er hat ein freudiges Gesicht, nicht nur, weil er von blühenden Bäumen umgeben ist, sondern weil sein Kind ihn lachend anschaut. Ältere könnten ja meinen, dass Freude für die Jüngsten das ganz Normale, Selbstverständliche sein müsse. Wenn sie behütet aufwachsen, hätten sie doch allen Grund dazu. Aber Kinder haben von An- fang an ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, denen sie auch lautstark Ausdruck geben können. Wenn sich nicht erfüllt, was sie erhofften, können sie so bodenlos traurig sein, dass es ein Jammer ist. Weil sie – darum können wir sie ja eigentlich beneiden – ganz im Jetzt leben. Jetzt oder nie. Habe ich jetzt Hunger, kann ich nicht warten. Will ich jetzt spielen, braucht es schon einige Überredungskünste, um klar zu machen, dass es aus bestimmten Gründen nicht geht.
Insofern steht das kleine Mädchen im Buch schon ziemlich über den Dingen. Nicht nur, dass es im Moment unmöglich ist, mit dem Vater Schlittschuh zu laufen, Fußball zu spielen oder schwimmen zu gehen, es wird für sie nie sein wie für andere Kinder. Ob es schmerzlicher Einsicht bedurfte, dass der Vater zu vielem nicht in der Lage ist? Wo- möglich gar nicht mal so sehr. Dieses Kind kann mit dem Herzen sehen. Um den Vater tut es dem Mädchen leid, nicht um sich selbst. »An einem Regentag sagt Papa: ›Möchtest du nicht los und durch die Pfützen springen?‹ ›Nein! Es ist viel gemütlicher, mit dir zusammen unseren Regentag-Kakao zu schlürfen.‹« Wer das Buch vorliest, könnte ja fragen, warum die Kleine nicht doch mal nach draußen geht. Hat sie keine Freunde? Hat sie keine Mutter? Womöglich nicht. So ganz und gar an den Vater gebunden ist sie, dass es ihn nur freuen und ihm auch schon wieder Sorgen bereiten kann. Denn irgendwann wird sie ohne ihn zurechtkommen müssen.
Aber das bleibt außerhalb dieses Buches. Es heißt, die südkoreanische Autorin habe einen Teil ihrer eigenen Lebensgeschichte erzählt. Es ist eine Liebeserklärung an den Vater, mit dem sie Blumen bestaunen, Sandburgen bauen oder malen konnte, der so schön Ukulele spielte und so lecker kochte. Ein Gedenken vielleicht, aber es weckt noch viele aufs Heute bezogene Gedanken. Darüber zum Beispiel, wie viel Zurücksetzung allein im Begriff »behindert« steckt.
Ist ein radfahrender Papa etwa automatisch der bessere Vater? Was ist das Wichtigste, was Kinder von Eltern erwarten? Zuwendung. Darin kann sich das Mädchen im Buch offenbar so sicher sein, dass anderes schon nicht mehr so viel bedeutet. Außerdem: Wenn das eine nicht geht, kann man etwas anderes machen. Kindern wird hier Beweglichkeit vorgeführt, die selbst ihnen nicht selbstverständlich ist. Und Erwachsenen schenkt die Autorin ein begütigendes Lächeln: Sei, wie du bist.