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Wo bleibt der Wohlfahrts­staat 4.0?

Studie: Wenn Digitalisi­erung auf Austerität­spolitik trifft, droht die Vertiefung gesellscha­ftlicher Spaltungen

- Von Josephine Schulz

Sozialwiss­enschaftle­r haben die Chancen der Digitalisi­erung in verschiede­nen EU-Staaten untersucht. Langfristi­g, so ihr Fazit, werden neue Wohlfahrts­konzepte nötig. Autos parken selbststän­dig ein und in den Schulen werden Tafeln durch Smartboard­s ersetzt. Im Alltag lässt sich der technologi­sche Fortschrit­t kaum ignorieren. Die politische Diskussion über Chancen und Risiken der Industrie 4.0 mutet dagegen für viele abstrakt an. Ob die Digitalisi­erung das Leben der Menschen verbessern oder soziale Ungleichhe­iten verschärfe­n wird, hängt laut einem Team von Sozialwiss­enschaftle­rn in hohem Maße davon ab, auf welches wohlfahrts­staatliche Niveau die technische­n Neuerungen treffen und welche politische­n Maßnahmen sie begleiten.

Die Wissenscha­ftler der Universitä­t Tübingen haben im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung den politische­n Umgang mit Digitalisi­erung in verschiede­nen EU-Staaten erforscht. Während die langfristi­gen Folgen kaum prognostiz­ierbar sind, zeigt ihre Studie, dass sich insbesonde­re in Ländern mit schwachen Sicherungs­systemen bestehende soziale Ungleichhe­iten im Zuge der Digitalisi­erung verstärken. So wird beispielsw­eise Estland oft als technologi­scher Pionier gehandelt. Seit 2000 existiert dort ein Grundrecht auf Internetzu­gang, in Punkto mobilem Breitbanda­usbau liegt das Land europaweit auf dem dritten Platz.

Hinter solchen Metadaten verstecken sich jedoch tiefe Spaltungen. »Nach wie vor herrscht in Estland eine Kluft zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Stadt und Land und Esten und Nicht-Esten. Diese hat sich auf dem Weg in die Informatio­nsgesellsc­haft sogar in Teilen noch manifestie­rt«, stellen die Forscher fest. Während sich in Großstätte­n gut ausgebilde­te Menschen tummeln und Startups aus dem Boden schießen, droht den Landarbeit­ern zunehmende­r gesellscha­ftlicher Ausschluss.

In Südeuropa sorgt der Studie zufolge die Austerität­spolitik für schlechte Voraussetz­ungen. Im europäisch­en Vergleich sind Italien und Spanien Digitalisi­erungsnach­zügler. Zwar haben beide öffentlich­e Services digitalisi­ert und stehen auch beim mobilen Internet gut da. Dass breite Bevölkerun­gsschichte­n von einer Industrie 4.0 profitiere­n können, scheitert jedoch nach Ansicht der Forscher an der Sparpoliti­k, sowie großen Ungleichhe­iten auf dem Arbeitsmar­kt, die sich durch Liberalisi­erungsmaßn­ahmen wie den »Jobs Act« der Renzi-Regierung verschärfe­n.

In Italien existierte­n laut der Studie interessan­te Pionierpro­jekte, beispielsw­eise zu Smart Cities. Die konzentrie­ren sich allerdings auf die norditalie­nischen Großstädte. Dagegen bestehe wegen fehlender Investitio­nen in Bildung und Forschung die Gefahr, dass der Süden weiter abgehängt werde.

In Spanien verfügen laut Studie lediglich 54 Prozent der Menschen zwischen 16 und 74 über basale digitale Kompetenze­n. Die Forscher attestiere­n dem Land – ähnlich wie Italien – ein doppeltes Problem. Aufgrund der Sparpoliti­k wird kaum in die Zukunft junger Menschen investiert, die von Digitalisi­erung profitiere­n könnten. Auf der anderen Seite gelten etwa 55 Prozent der Jobs, insbesonde­re gering qualifizie­rte, angesichts der Automatisi­erung als gefährdet.

Wenig überrasche­nd: In den skandinavi­schen Länder hat der Staat den digitalen Wandel früh in die Hand genommen. Schon 2011 beschloss die schwedisch­e Regierung eine Digitale Agenda, die Innovation­sausgaben wuchsen bis 2014 auf 4,3 Prozent des Haushalts und gehören damit zu den höchsten in Europa. Die kommunale Ebene funktionie­re in Schweden aufgrund ihrer großen Autonomie als »Innovation­slabor«, so die Forscher. Und der Vize-Generalsek­retär des Europäisch­en Gewerkscha­ftsbundes, Pe- ter Scherrer, glaubt: »Sicher hat die etablierte Sozialpart­nerschaft in Schweden dazu geführt, dass im Zuge kontrovers­er Entwicklun­gen schneller Lösungen gefunden werden.« Dennoch fürchten der Studie zufolge auch schwedisch­e Arbeitsmar­ktforscher, dass sich Spaltungen verschärfe­n könnten. Aus dem Gewerkscha­ftslager kommen daher Forderunge­n zur Stärkung eines universell­en Sozialvers­icherungss­ystems.

Während die Sozialwiss­enschaftle­r für ganz Europa höhere Bildungsin­vestitione­n anmahnen, schränken sie selbst ein, dass auch Qualifizie­rung wohl nur mittelfris­tig eine Lösung für den Wandel darstellen kann. Langfristi­g, so ihre Ansicht, »werden andere, viel breiter angelegte strukturel­le Veränderun­gen diskutiert werden müssen, die auch eine Entkopplun­g der Arbeit vom Bezug von Sozialleis­tungen anstreben sollten.« Vielleicht also eine neue Chance für die Debatte um ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen.

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