Die Weimarer und ihr Bücherkosmos
Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist zur Identitätsstifterin in der thüringischen Klassikerstadt geworden
Mit keiner anderen Einrichtung der Stadt verbindet man im thüringischen Weimar so sehr das Pronomen »unsere« wie mit der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. In diesem Jahr wird sie 325 Jahre alt. »Die Anna Amalia Bibliothek ist das Schönste, was wir haben. Jeder Tourist möchte in den berühmten Saal«, antwortete eine Passantin vor dem Nationaltheater auf die Frage, was die Einrichtung für Weimar bedeutet – und eilte davon. Sie gehörte nicht zu den geladenen Gästen, die aus der gesamten Republik kürzlich zum Jubiläumsfestakt ins Nationaltheater strömten: Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek wurde 1691 gegründet und ist somit nun 325 Jahre alt.
Die Jubiläumsfeierlichkeiten bieten auch den Rahmen, Bibliotheksdirektor Michael Knoche nach zweieinhalb Jahrzehnten in den Ruhestand zu verabschieden. Unter seiner Regie gedieh die Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) zu einem Ort der Entdeckung und Anregung, zum Ideal einer Forschungsbibliothek.
Die größte und schwerste Aufgabe, die Direktor Knoche zu bewältigen hatte, war der Wiederaufbau nach dem verheerenden Brand vom 2. September 2004. Die Katastrophe ereignete sich während des Umzugs in ein neues Magazingebäude mit Studienzentrum, das für 1,4 Millionen Bücher erbaut worden war. Das alte Gebäude musste nach dem Brand aufwendig saniert, Tausende Bücher und Archivalien mussten restauriert oder neu beschafft werden.
Das Unglück hat das Gemeinschaftsgefühl in der Stadt Weimar gestärkt. Viele Bürger halfen, Bücher aus den Trümmern zu bergen. Sie haben verstanden, dass das, was in der Bibliothek gesammelt und aufbewahrt wird, als Gedankengut zum Fundament der Gesellschaft gehört. Auch Umfang und Wert der Weimarer Bestände wurde vielen in jenen Tagen erst richtig ins Bewusstsein gerufen. Der Schwerpunkt der Forschungsbibliothek liegt bei der Klassik, aber auch die Sammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts sind beträchtlich.
Die Bibliothek ist zur Identitätsstifterin in der Klassikerstadt geworden, mit keiner anderen Einrichtung verbindet sich so sehr das Pronomen »unsere«. Vom »Bücherkosmos Weimar« sprach Thüringens Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff zur Feierstunde. Er sei ein Wahrzeichen für Bildung im Sinne der Aufklärung.
Jeder interessierte Leser kann den Bücherkubus im Studienzentrum der HAAB nutzen. Tatsächlich ist die Zahl der Leser seit Eröffnung dieses Neubaus beträchtlich gestiegen – ein In- diz, dass man sich auch heutzutage mit Büchern durchaus wohlfühlen kann. Die HAAB digitalisiert seit Jahren zudem historische Dokumente, die über das Internet zu Forschungszwecken abrufbar sind. Das erleichtert die Arbeit für Wissenschaftler und schützt die Bestände. Wer die originalen Quellen nutzt, findet in Weimar ideale Bedingungen: die gut ausgestattete Bibliothek und die authentischen Orte der Dichter liegen fußläufig beieinander.
Der vielfach gerühmte Rokokosaal der Bibliothek ist das Kernstück des historischen Gebäudes, das Namensgeberin Anna Amalia während ihrer Regentschaft einrichten ließ. Der ehemalige kleine Palast bekam 1766 einen sakral wirkenden Innenraum, der über drei Geschosse reicht. Büsten von Dichtern und etliche Gemälde lassen die Bücher in den Regalen um so mehr als Kostbarkeiten wirken.
Diesen fürstlichen Tempel der Bildung öffnete die Herzogin als einen der ersten in Deutschland für alle Bürger, auch für Frauen. Nach dem Brand konnte er 2007 wiedereröffnet werden. Der Ansturm auf den Rokokosaal mit seiner einmaligen Atmosphäre ist so groß, dass die Besucherzahl beschränkt werden muss.
Was interessiert Menschen aus aller Welt an diesem bibliophilen Kleinod? Die Verbindung von Kunst und Literatur? Das rocaillegeschmückte Interieur? Oder ist es die besondere Aufstellung der Bücher, die sich heutigen Systematiken entzieht? Die alte Bibliothek ist ein Ort für Suchende, die sich durch die Bücher auf unbekannte Wege verleiten lassen. Heureka!
Büsten von Dichtern und etliche Gemälde lassen die Bücher in den Regalen um so mehr als Kostbarkeiten wirken.