Joschka Fischer wäre entzückt
Ivan Panteleev gibt in seiner Inszenierung von Goethes »Iphigenie auf Tauris« am Berliner DT den zynischen Theater-Realo
Langsam rinnt der gepeinigten Blonden die Farbe vom Kopf. Sie gibt sich keine Mühe, ihr Leid zu verbergen. Dem Publikum zugewandt, verschmilzt der schmerzend starre Blick mit dem weinerlichen Singsang ihrer Stimme zu einer Symbiose. Wären die klumpigen Kleckse auf ihrem Haupt, ihren flehenden Händen und ihrem reinen Kleid nicht blütenweiß, sondern blutrot, manchem Zuschauer käme wohl die Galle hoch.
Klingt doch alles andere als langweilig, diese noch immer ganze Schülergenerationen quälende »Iphigenie auf Tauris«, mag man da denken. Dabei soll schon zu Goethes Zeiten die einschläfernde Wirkung des 1787 erschienenen Stücks beträchtlich gewesen sein. Und eigentlich sind sich die Intellektuellen bis heute einig: Das leblose Werk reißt niemanden vom Hocker. Seine Langlebigkeit verdankt sich den auf der Jagd nach künstlerischer Anerkennung reihenweise dem Originalitätssuchfieber anheimfallenden, brennend ehrgeizigen Regisseuren. Ein heute unspielbarer Text? Ich beweise euch das Gegenteil!
Ivan Panteleev gehört zu jener Riege an Spielleitern, die sich gern dem Paradoxen, Absurden und Gedankenknotenhaften hingibt. Besonders famos inszenierte er zuletzt Samuel Becketts »Warten auf Godot« am Deutschen Theater in Berlin. Dort steht nun auch seine neueste Produktion auf dem Programm. Iphigenie (Kathleen Morgeneyer) ist hier nicht jener Leuchtturm des Humanismus, als den Goethe sie eigentlich charakterisiert hat. Nein, hier performt ein angry young girl mit zeitgemäß zynischem Zorn ihre Abgefucktheit. Und das tut sie so gut, dass die im Stakkato vorgetragenen Szenen einem auch nach zwei Stunden noch nicht auf die Nerven gehen.
Das liegt auch daran, dass Panteleev gleich zu Beginn deutlich macht, worum es ihm geht: Er will den Text zertrümmern, indem er ihn im Vortrag ernst nimmt und ihn in der Darbietung persifliert. Auf der verengten Bühne steht ein Riesentisch, alles ist in Schwarz gehalten. Als erste Spielhandlung erheben sich die fünf Darsteller von ihren Plätzen in der ersten Zuschauerreihe, greifen sich Malerwalzen und Farbeimer und streichen jeden erreichbaren Punkt der Bühne zu Orgelmusik aus dem Transistorradio alpinaweiß, ohne ein Wort zu reden. Als dieses eloquente Stück dann wortschwallig und handlungsfrei startet, steigt Iphigenie farbverschmiert auf den Tisch und deklamiert: »Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern / Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram / Das nächste Glück vor seinen Lippen weg.«
Das Pathos verwundert nicht, denn Iphigenie entstammt einer von den Göttern verfluchten Familie. Ihr Vater Agamemnon wollte sie der Göttin Diana opfern, um in schwertschwingendem Hurrapatriotismus gen Troja segeln zu können. Ebenjene Göttin rettete dann aber das Mädchen und entführte es auf die Insel Tauris, die der Sage nach dort gelegen haben soll, wo sich heute die Krim befindet. Auf Tauris gab sie Iphigenie einen lukrativen Job als Priesterin. Weil sie diese Arbeit so gewissenhaft und zum Wohle aller ausübt, wirft nun König Thoas (Oliver Stokowski) ein amouröses Auge auf sie.
Iphigenie sehnt sich aber zurück nach Griechenland und folgt dem Royalen nicht vor den Traualtar. Plötzlich taucht ihr Bruder Orest (Moritz Grove) mit seinem Jugendfreund Pylades (Camill Jammal) auf, um eine Statue zu rauben und dadurch den Familienfluch aufzulösen. Die wahrhaftige Iphigenie erklärt dem König alles und bringt ihn dazu, alle unbeschadet ziehen zu lassen. Dem Bruder fällt auf, dass er nur seine Schwester mitnehmen muss und die Statue sogar unbeschadet stehen bleiben kann. Friede, Freude, Sirtaki und Kuchen?
Nicht mit Ivan Panteleev. Das berühmteste Zitat des Stückes kehrt er mal eben um. Aus »Es fürchte die Götter, das Menschengeschlecht« wird bei ihm unausgesprochenerweise »Es fürchten die Götter das Menschengeschlecht.« Ohne, dass er eingespielt würde, hat man den alten Brecht im Ohr: »Der Mensch ist gar nicht gut. / Drum hau ihn auf den Hut. / Hast du ihn auf dem Hut gehaut, / Dann wird er vielleicht gut.« Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch: Wir sind nicht so lieb und nett, wie Goethe es sich herbeifantasiert, meint Panteleev also. Das ist eine steile These, über die sich ewig streiten lässt und doch nie Einigung zu erzielen sein dürfte.
Wie stringent der Regisseur seine Idee durchzieht und dabei mutig das Risiko eingeht, den starr nacherzählten Inhalt durch eine diesen Inhalt konterkarierende Form zu pulverisieren, das beeindruckt. Iphigenie, zu Anfang noch naiv und leichtgläubig, ist als einziger Bühnenmensch in Weiß gekleidet, ihre Mitspieler tragen die an Wand, Tisch und Stühlen fleckig durchschimmernde Ursprungsfarbe. Man kann die dunkle Seite des Menschen übertünchen, es nützt aber nichts. Hoffnung erwächst hier nur aus der Einsicht in die Notwendigkeit des eigennützigen »Homo sapiens«. So wenig auf der Bühne auch geschieht, in ihren sprachgewaltigen Rededuellen in dem streng monoton in fünfhebigen Jamben gehaltenen GoetheText schaffen es Thoas, Orest, Pylades und des Königs Adjutant Arkas (Barbara Schnitzler), Iphigenie vom »Fundi« zum »Realo« zu wandeln. Joschka Fischer wäre entzückt.
Woran ein solch entschlossener Politiker dagegen zu knabbern hätte, ist die an Nihilismus grenzende Kapitulation vor der objektiven Sinnlosigkeit allen Daseins. Orest und Pylades brüllen ihre Wut ob der Schlechtigkeit der Welt immer wieder ohrenbetäubend laut in die trüb darbende Zeitläufte hinein, derweil Thoas ab der Mitte des Abends wirkt wie ein Schwerdepressiver. Mit wankendem Zittern im Timbre wimmert Iphigenie am Ende: »Rettet mich!« Sie darf Tauris verlassen, trotzdem stehen in der Schlussszene da oben nur ins Unglück sich stürzende Trauerklöße, denen sogar das aufrichtige »Leb wohl!« nur schwer über die Lippen geht.
Man hat ständig den alten Brecht im Ohr: »Der Mensch ist gar nicht gut. / Drum hau ihn auf den Hut. / Hast du ihn auf dem Hut gehaut, / Dann wird er vielleicht gut.«