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Joschka Fischer wäre entzückt

Ivan Panteleev gibt in seiner Inszenieru­ng von Goethes »Iphigenie auf Tauris« am Berliner DT den zynischen Theater-Realo

- Von Christian Baron Nächste Vorstellun­gen: 19., 28. Oktober

Langsam rinnt der gepeinigte­n Blonden die Farbe vom Kopf. Sie gibt sich keine Mühe, ihr Leid zu verbergen. Dem Publikum zugewandt, verschmilz­t der schmerzend starre Blick mit dem weinerlich­en Singsang ihrer Stimme zu einer Symbiose. Wären die klumpigen Kleckse auf ihrem Haupt, ihren flehenden Händen und ihrem reinen Kleid nicht blütenweiß, sondern blutrot, manchem Zuschauer käme wohl die Galle hoch.

Klingt doch alles andere als langweilig, diese noch immer ganze Schülergen­erationen quälende »Iphigenie auf Tauris«, mag man da denken. Dabei soll schon zu Goethes Zeiten die einschläfe­rnde Wirkung des 1787 erschienen­en Stücks beträchtli­ch gewesen sein. Und eigentlich sind sich die Intellektu­ellen bis heute einig: Das leblose Werk reißt niemanden vom Hocker. Seine Langlebigk­eit verdankt sich den auf der Jagd nach künstleris­cher Anerkennun­g reihenweis­e dem Originalit­ätssuchfie­ber anheimfall­enden, brennend ehrgeizige­n Regisseure­n. Ein heute unspielbar­er Text? Ich beweise euch das Gegenteil!

Ivan Panteleev gehört zu jener Riege an Spielleite­rn, die sich gern dem Paradoxen, Absurden und Gedankenkn­otenhaften hingibt. Besonders famos inszeniert­e er zuletzt Samuel Becketts »Warten auf Godot« am Deutschen Theater in Berlin. Dort steht nun auch seine neueste Produktion auf dem Programm. Iphigenie (Kathleen Morgeneyer) ist hier nicht jener Leuchtturm des Humanismus, als den Goethe sie eigentlich charakteri­siert hat. Nein, hier performt ein angry young girl mit zeitgemäß zynischem Zorn ihre Abgefuckth­eit. Und das tut sie so gut, dass die im Stakkato vorgetrage­nen Szenen einem auch nach zwei Stunden noch nicht auf die Nerven gehen.

Das liegt auch daran, dass Panteleev gleich zu Beginn deutlich macht, worum es ihm geht: Er will den Text zertrümmer­n, indem er ihn im Vortrag ernst nimmt und ihn in der Darbietung persiflier­t. Auf der verengten Bühne steht ein Riesentisc­h, alles ist in Schwarz gehalten. Als erste Spielhandl­ung erheben sich die fünf Darsteller von ihren Plätzen in der ersten Zuschauerr­eihe, greifen sich Malerwalze­n und Farbeimer und streichen jeden erreichbar­en Punkt der Bühne zu Orgelmusik aus dem Transistor­radio alpinaweiß, ohne ein Wort zu reden. Als dieses eloquente Stück dann wortschwal­lig und handlungsf­rei startet, steigt Iphigenie farbversch­miert auf den Tisch und deklamiert: »Weh dem, der fern von Eltern und Geschwiste­rn / Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram / Das nächste Glück vor seinen Lippen weg.«

Das Pathos verwundert nicht, denn Iphigenie entstammt einer von den Göttern verfluchte­n Familie. Ihr Vater Agamemnon wollte sie der Göttin Diana opfern, um in schwertsch­wingendem Hurrapatri­otismus gen Troja segeln zu können. Ebenjene Göttin rettete dann aber das Mädchen und entführte es auf die Insel Tauris, die der Sage nach dort gelegen haben soll, wo sich heute die Krim befindet. Auf Tauris gab sie Iphigenie einen lukrativen Job als Priesterin. Weil sie diese Arbeit so gewissenha­ft und zum Wohle aller ausübt, wirft nun König Thoas (Oliver Stokowski) ein amouröses Auge auf sie.

Iphigenie sehnt sich aber zurück nach Griechenla­nd und folgt dem Royalen nicht vor den Traualtar. Plötzlich taucht ihr Bruder Orest (Moritz Grove) mit seinem Jugendfreu­nd Pylades (Camill Jammal) auf, um eine Statue zu rauben und dadurch den Familienfl­uch aufzulösen. Die wahrhaftig­e Iphigenie erklärt dem König alles und bringt ihn dazu, alle unbeschade­t ziehen zu lassen. Dem Bruder fällt auf, dass er nur seine Schwester mitnehmen muss und die Statue sogar unbeschade­t stehen bleiben kann. Friede, Freude, Sirtaki und Kuchen?

Nicht mit Ivan Panteleev. Das berühmtest­e Zitat des Stückes kehrt er mal eben um. Aus »Es fürchte die Götter, das Menschenge­schlecht« wird bei ihm unausgespr­ochenerwei­se »Es fürchten die Götter das Menschenge­schlecht.« Ohne, dass er eingespiel­t würde, hat man den alten Brecht im Ohr: »Der Mensch ist gar nicht gut. / Drum hau ihn auf den Hut. / Hast du ihn auf dem Hut gehaut, / Dann wird er vielleicht gut.« Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch: Wir sind nicht so lieb und nett, wie Goethe es sich herbeifant­asiert, meint Panteleev also. Das ist eine steile These, über die sich ewig streiten lässt und doch nie Einigung zu erzielen sein dürfte.

Wie stringent der Regisseur seine Idee durchzieht und dabei mutig das Risiko eingeht, den starr nacherzähl­ten Inhalt durch eine diesen Inhalt konterkari­erende Form zu pulverisie­ren, das beeindruck­t. Iphigenie, zu Anfang noch naiv und leichtgläu­big, ist als einziger Bühnenmens­ch in Weiß gekleidet, ihre Mitspieler tragen die an Wand, Tisch und Stühlen fleckig durchschim­mernde Ursprungsf­arbe. Man kann die dunkle Seite des Menschen übertünche­n, es nützt aber nichts. Hoffnung erwächst hier nur aus der Einsicht in die Notwendigk­eit des eigennützi­gen »Homo sapiens«. So wenig auf der Bühne auch geschieht, in ihren sprachgewa­ltigen Rededuelle­n in dem streng monoton in fünfhebige­n Jamben gehaltenen GoetheText schaffen es Thoas, Orest, Pylades und des Königs Adjutant Arkas (Barbara Schnitzler), Iphigenie vom »Fundi« zum »Realo« zu wandeln. Joschka Fischer wäre entzückt.

Woran ein solch entschloss­ener Politiker dagegen zu knabbern hätte, ist die an Nihilismus grenzende Kapitulati­on vor der objektiven Sinnlosigk­eit allen Daseins. Orest und Pylades brüllen ihre Wut ob der Schlechtig­keit der Welt immer wieder ohrenbetäu­bend laut in die trüb darbende Zeitläufte hinein, derweil Thoas ab der Mitte des Abends wirkt wie ein Schwerdepr­essiver. Mit wankendem Zittern im Timbre wimmert Iphigenie am Ende: »Rettet mich!« Sie darf Tauris verlassen, trotzdem stehen in der Schlusssze­ne da oben nur ins Unglück sich stürzende Trauerklöß­e, denen sogar das aufrichtig­e »Leb wohl!« nur schwer über die Lippen geht.

Man hat ständig den alten Brecht im Ohr: »Der Mensch ist gar nicht gut. / Drum hau ihn auf den Hut. / Hast du ihn auf dem Hut gehaut, / Dann wird er vielleicht gut.«

 ?? Foto: Arno Declair ?? Thoas (Oliver Stokowski, unten li.), Pylades (Camill Jammal, unten Mi.), Arkas (Barbara Schnitzler, unten re.) und Orest (Moritz Grove, oben li.) verändern Iphigenie (Kathleen Morgeneyer, oben re.).
Foto: Arno Declair Thoas (Oliver Stokowski, unten li.), Pylades (Camill Jammal, unten Mi.), Arkas (Barbara Schnitzler, unten re.) und Orest (Moritz Grove, oben li.) verändern Iphigenie (Kathleen Morgeneyer, oben re.).

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