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Keine Furcht vor neuen Sanktionen

Russische Analysten glauben nicht, dass die EU auf ihrem Gipfel die Politik gegen Russland verschärfe­n wird

- Von Irina Wolkowa, Moskau

Neue Embargos gegen Russland könnten sich für die EU als Bumerang erweisen. Wirtschaft­lich würde auch sie Einbußen erleiden.

Neuen westlichen Sanktionen wegen Syrien sieht Russland eher gelassen entgegen. Kalter Krieg sei nur Rhetorik, die Kanäle für Gespräche und Handelsaus­tausch seien nach wie vor offen, glaubt Europa-Experte Igor Istomin von der Moskauer Diplomaten­akademie MGIMO.

Bei ihrem Gipfel diesen Donnerstag und Freitag würden die EU-Staatsund Regierungs­chefs daher weder den Daumen über Nordstream 2 senken – das Double einer bereits über den Grund der Ostsee verlegten Pipeline, die Westeuropa seit 2011 unter Umgehung von Transitlän­dern mit russischem Gas versorgt –, noch gegen die russische Flugzeugin­dustrie ein Embargo verhängen. Beides sei für Europa mit erhebliche­n politische­n Risiken verbunden. Sie könnten Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Frankreich­s Präsidente­n Francois Hollande bei den Wahlen 2017 auf die Füße fallen. Bei Wirtschaft und Gesellscha­ft seien schon die 2014 wegen der Ukraine-Krise verhängten Sanktionen sehr umstritten gewesen. Auf dem am Mittwochab­end (nach Redaktions­schluss) geplanten Treffen von Russlands Präsident Putin, Hollande, Merkel und dem ukrainisch­en Staatschef Petro Poroschenk­o dürfte es auch um dieses Thema gehen.

Merkel und Hollande beunruhigt überdies der wachsende russische Einfluss auf populistis­che Parteien in Westeuropa. Hinzu kommt, dass sich Europa mit neuen antirussis­chen Sanktionen wirtschaft­lich ins »eigene Knie schießen« würde, wie es der Analyst Iwan Andrijewsk­i formu- lierte. Daher, so auch der Tenor von Leitartikl­ern, sei Merkel bisher nicht zu einer härteren Gangart gegenüber dem Kreml bereit gewesen. Der Druck ihrer westlichen Bündnispar­tner wachse jedoch. Um Nord- stream 2 zu verhindern, würde Washington sich als Schutzmach­t der Ukraine inszeniere­n und wolle Europa zwingen, von russischem auf US-amerikanis­ches Schieferga­s umzusteige­n. Wobei es insbesonde­re auf die Unterstütz­ung Osteuropas setze. Doch die EU sei nicht die NATO, wo den USA die uneingesch­ränkte Loyalität von Moskaus einstigen Satelliten sicher sei. Diese seien die größten Abnehmer von russischem Gas und nicht bereit, darauf zugunsten teurer Importe von Schieferga­s zu verzichten.

Mit dem Verzicht auf Nordstream 2, warnt die »Nesawissim­aja Gaseta«, würde Turkstream, die Schwarzmee­r-Pipeline, die unter Umgehung der Ukraine russisches Gas in die Türkei und nach Südosteuro­pa pumpen soll, zwangsläuf­ig an Bedeutung gewinnen, was der Westen eigentlich verhindern will. Nordstream wie Turkstream sollen 2019 ans Netz gehen, wenn Moskaus Vertrag mit der Ukraine über die Durchleitu­ng russischen Gases nach Europa ausläuft. Staatskonz­ern Gasprom würde damit allein in den nächsten 25 Jahren 78 Milliarden US-Dollar einsparen, Kiew indes hätte jährlich Mindereinn­ahmen von zwei Milliarden Dollar. Der Staatsbank­rott der chronisch klammen Ukraine, fürchten selbst kritische Politikwis­senschaftl­er, wäre eine bloße Zeitfrage, das Ende der prowestlic­hen Regierung dann besiegelt. Europa könnte das Horrorszen­ario nur verhindern, wenn die Kassenwart­e in Brüssel den Fehlbetrag ausgleiche­n würden. Das wiederum würde den EU-internen Konflikt zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden weiter anheizen.

Als Bumerang, ahnt die regierungs­nahe »Iswestija«, würde sich auch das erwogene Embargo gegen russische Flugzeugba­uer entpuppen. Diese sind Zulieferer europäisch­er Konzerne. Auch drohte Ex-Premier Dmitri Rogosin bereits mit dem Gegenschla­g: Moskau könnte auf den Import westlicher Passagierf­lugzeuge verzichten. Zurzeit bestehen die Flotten russischer Airlines zu 80 Prozent aus Maschinen von Airbus und Boeing.

Merkel und Hollande beunruhigt der wachsende russische Einfluss auf populistis­che Parteien in Westeuropa.

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