Noch ist nichts gewonnen
Iraks Armee meldet Erfolge bei Mossul-Offensive, vertrieben werden jedoch nicht nur Anhänger der Terrormiliz
»Wir werden Mossul mit irakischen Fahnen verhüllen.«
Irak gibt sich als der Starke im Kampf gegen den Islamischen Staat. Doch der IS ist noch lange nicht besiegt und die Regierung in Bagdad schwach. Der irakische Staat ist da, falls jemand einen Zweifel haben sollte: An Hauswänden, Laternenmästen, hängen große und kleine Flaggen und es werden immer mehr, je näher man den vom Islamischen Staat (IS) kontrollierten Gebieten kommt. »Wir werden Mossul mit irakischen Fahnen verhüllen«, hatte der in Kampfmontur gekleidete Regierungschef Haider al-Abadi gesagt, als er in der Nacht zum Montag im Fernsehen den Beginn der Offensive auf Mossul verkündete. In den vergangenen Monaten hat ein loses Bündnis aus irakischem Militär und Milizen dem IS immer mehr Gebiete entrungen; aus einer Ortschaft nach der anderen wurden die Kämpfer der islamistischen Organisation vertrieben.
Und so sind die IS-Soldaten im April auch nach Hit gekommen: Von Bagdad aus in Richtung Jordanien rechts ab liegt das Städtchen, das einst um die 30 000 Einwohner zählte. Dort verdiente man sein Geld mit Landwirtschaft, die Stadt diente als Knotenpunkt für Eisenbahn- und Schiffsverkehr auf dem Euphrat und die Straßenverbindungen nach Jordanien und Syrien. Doch dann kam erst der Krieg in Syrien, anschließend der Islamische Staat.
»Das Wichtigste ist, dass die Terroristen aus der Stadt vertrieben wurden«, sagt Muhannad Sbar, Kommandant der örtlichen Polizei, während er vor seiner Polizeistation steht, um ihn herum menschenleere Straßen. Die wenigen Passanten beäugen den Polizisten in seiner Vorzeigeuniform misstrauisch und suchen dann das Weite. »Der Islamische Staat ist nicht weit«, wird ein älterer Mann später sagen. »Die sitzen noch da draußen.« Er reckt die Arme in die Höhe, in Richtung der Stadtgrenzen: »Und sie können jederzeit zurückkommen. Der irakische Staat ist hier schwach: Er hat gegen den IS damals nichts ausgerichtet und er wird auch heute nichts gegen ihn ausrichten können, falls er zurückkommen sollte.«
Begleitet von Pressemitteilungen der irakischen Regierung und siegessicheren Stellungnahmen von Ge- nerälen des US-Militärs, das die Iraker im Kampf gegen den IS unterstützt, hatte man damals die Miliz zuerst aus der Provinzhauptstadt Ramadi und dann aus Hit vertrieben. Das weitgehend unbewohnte Umland hingegen ließ man links liegen, und bot den Kämpfern des IS damit einen Rückzugsort. Immer wieder fallen seine Gruppen in die Stadt ein, begehen Anschläge. Aber vor allem nehmen sie sich alles, was sie zum Überleben da draußen brauchen. Die Gebietsverluste seien vorübergehend, heißt es auf den dem Islamischen Staat nahestehenden Onlineplattformen. Man werde aus dem Umland heraus die Oberhand gewinnen.
Jede Fahrt von Ort zu Ort wird damit zum Risiko: Immer wieder werden Fahrzeuge an Kontrollposten aufgehalten; Sperren aus Stacheldraht, Fässern und Reifen, an denen Männer in Uniform die Papiere kontrollieren. Meist handelt es sich dabei um Milizen, die die Dinge selbst in die Hand nehmen. Manche davon sind Bürgerwehren, die auf diese Weise den Islamischen Staat zurückdrängen wollen. Anderen geht es vor allem um Geld, meist sind die Gren- zen fließend. »Sie müssen verstehen«, sagt ein Milizionär, ein 16-Jähriger: »Wir sind arm, es gibt keine Arbeit. Wir müssen leben und wir brauchen Geld für Waffen und Munition, um gegen den Islamischen Staat zu kämpfen.« Und immer wieder, überall Staatsflaggen, während die Bürger ihren eigenen Krieg gegen den IS führen, der häufig auch ein Krieg zwischen den Bürgern ist.
Mittendrin Offizielle wie Polizeichef Sbar: imposant, aber mit kleinen
Haider al-Abadi, Ministerpräsident des Irak
Trupps aus meist sehr jungen Polizisten allein gelassen, haben sie ihre eigenen Strategien erfunden. »Der Islamische Staat muss weg!«, ruft Zbeir, knallt mit der linken Faust in die rechte Handfläche, »und wenn ich die halbe Stadt leer fegen muss.« Es sind nicht nur Worte.
An einem Tag Anfang September ließ Sbar von seinen Männern Flugblätter an Haustüren kleben: »IS-Terroristen! Ihr seid hier nicht willkommen.« Die Bewohner der Häuser hätten dann bis Eid al-Adha, einem Feiertag Mitte September, Zeit gehabt, den Ort zu verlassen. Ähnliches wird auch aus anderen Orten berichtet, aus denen der Islamische Staat im Laufe der vergangenen Jahre vertrieben wurde. »Wir haben sehr umfangreiche Ermittlungen angestellt und haben dabei festgestellt, dass diese Familien den Islamischen Staat unterstützt haben«, sagt Sbar: »Ohne diese Leute hätte der IS hier niemals sein Terror-Regime errichten können.«
Einige Tage später sitzt in Bagdad ein junger Mann namens Mohammad. Er stammt aus Hit, gehört zu den Vertriebenen: »Es hat gereicht, wenn einem einzigen Familienmitglied vorgeworfen wurde, mit dem IS zusammengearbeitet zu haben. Es wurde dann gleich die ganze Familie vertrieben – zehn, 20 Leute auf einmal.« Im Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Irak bestätigt man dies: Aus den Orten unter ehemaliger Kontrolle des IS werde eine große Zahl von Menschen vertrieben, die mit der Organisation kollaboriert haben sollen. Die Vorwürfe beruhten häufig auf Denunziation.
Dabei spielt auch oft der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten eine Rolle, der auch dadurch angefacht wird, dass Milizen, die sich der einen oder anderen Konfession zurechnen, mangels staatlicher Kontrolle um Einfluss in den ehemals vom IS besetzten Städten ringen. Dabei geht es diesen Gruppen nicht immer darum, bloß ein bisschen Geld als Gegenleistung für den Schutz der Bevölkerung zu verdienen. Einige wittern das große Geld: Einer Statistik des Innenministeriums zufolge werden derzeit in Bagdad allein zwei Menschen in der Woche entführt. Dabei wird darauf gebaut, dass die Familien der Betroffenen zusammengenommen ein paar Tausend Dollar als Lösegeld aufbringen.
Auch der Minister für Migration und Vertreibung, Dendar Nejman Dosky, bestätigt, dass es solche Vertreibungen gebe: »Die irakische Regierung ist entschieden gegen solche Menschenrechtsverletzungen. Die Verfassung garantiert das Recht auf freie Wahl des Wohnortes.« Doch er sagt auch, dass ihm und der restli- chen Regierung die Hände gebunden sind: Die Schwäche des Staates ist auch in Bagdad deutlich spürbar. Kurz bevor die Mossul-Offensive offiziell startete, begann der Islamische Staat, eine Serie von Bombenanschlägen in der Hauptstadt zu verüben. Viele der Polizisten, die noch vor kurzem auf Märkten und öffentlichen Plätzen präsent waren, wurden an die Front verlegt.
Doch vor allem ist es selbst mit extremer Mühe kaum noch nachvollziehbar, wer überhaupt wo das Kommando hat. Denn Irak steckt nicht nur mitten in der größten Militäroffensive seit dem Sturz Saddam Husseins. Mehrmals feuerte Regierungschef Abadi in den vergangenen Monaten hochrangige Polizeifunktionäre, beförderte stattdessen Personal aus der zweiten oder dritten Reihe. Gleichzeitig wurden der Polizei immer mehr Funktionen aufgetragen, ohne dass dafür mehr Personal eingestellt wurde.
Währenddessen geht das Parlament seit Monaten wegen Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung vor, spricht Ministern der Reihe nach das Misstrauen aus, womit sie der Verfassung nach gefeuert sind. Unter anderem traf es den Finanz- und den Verteidigungsminister. Der derzeitige Amtsinhaber Othman Ghanem ist erst seit dem 19. August im Amt. Das Finanzministerium ist seit Ende September führungslos.
»Im Grunde ist das auch egal«, sagt ein Mitarbeiter des Bauministeriums, der in Ramadi den Wiederaufbau der Infrastruktur in Gang bringen soll. »Wir haben schon seit Monaten nicht die Mittel bekommen, die wir bräuchten.« Und das, obwohl Irak von der internationalen Gemeinschaft Milliardenzahlungen erhalten hat. Der Mann führt zu einer Klinik in der Nähe, vor der sich eine riesige Ölpfütze gebildet hat. »Da ist ein Tank ausgelaufen, das Öl ist ins Grundwasser gelangt.« Im Krankenhaus nichts als leere Regale, wo Verbandsstoffe, Narkosemittel sein sollten. Man sei auf Hilfen des Roten Halbmondes und der Vereinten Nationen angewiesen. »Durch die vielen Kriege in der Region ist unser Geld sehr knapp«, sagt ein Sprecher des Roten Halbmondes in Bagdad: »Wir müssen irgendwann die Frage stellen, warum die Regierung nicht dazu in der Lage ist, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.«