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Die Verlorenen im »Dschungel«

Minderjähr­ige Migranten in Calais müssen um Familienzu­sammenführ­ung kämpfen

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Viele jugendlich­e Flüchtling­e in Frankreich wollen zu Verwandten nach Großbritan­nien. Die Behörden mauern gegen dieses Recht. Von den nach wie vor rund 10 000 Flüchtling­en im »Dschungel« von Calais, der nach dem Willen der Regierung bis Ende des Jahres aufgelöst sein soll, sind mehr als 1000 unbegleite­te Kinder und Jugendlich­e unter 18 Jahren. Sie haben nach der EU-Verordnung Dublin III das Recht auf Familienzu­sammenführ­ung, wenn nachgewies­en wird, dass sie Angehörige in Großbritan­nien haben. Das ist wiederholt sowohl von britischen als auch französisc­hen Gerichten bestätigt worden, doch die Realität sieht anders aus.

So hat eine französisc­he Anwältin, die für eine Hilfsorgan­isation arbeitet, gerade erst Mitte September für einen 16-jährigen irakischen Kurden einen Prozess vor dem Verwaltung­sgericht gewonnen. Der Staat wurde zu 4400 Euro Schadeners­atz an den in Großbritan­nien lebenden Onkel des Jungen verurteilt und zu weiteren 3000 Euro pro Tag bei anhaltende­r Verzögerun­g der Bearbeitun­g des Antrags. Es wurde festgestel­lt, dass die Präfek- tur wiederholt die Registrier­ung des Asylantrag­s verweigert hatte. Der ist aber rechtliche Voraussetz­ung für einen Antrag auf Familienzu­sammenführ­ung. Hilfsorgan­isationen hoffen, dass dieses Musterurte­il eine Bresche in die Bürokratie auf beiden Seiten des Kanals schlägt.

Denn seit Jahresbegi­nn konnten erst 75 minderjähr­ige Migranten von Calais nach Großbritan­nien zu ihren Familien ausreisen, obwohl nach Einschätzu­ng der Hilfsverei­ne bei mindestens 500 die Voraussetz­ungen vorliegen. In den nächsten Tagen soll eine 20-köpfige Gruppe die Reise antreten, doch weitere Ausreisewe­llen sind nicht in Sicht.

Die Anträge brauchen Wochen, um die französisc­hen Behörden zu passieren und die Prüfung der Familienba­nde durch die britischen Behörden dauert drei bis sechs Monate. Die Schuld an dem bürokratis­chen Hindernisl­auf schieben sich London und Paris gegenseiti­g zu. »Leidtragen­de sind die Kinder und Jugendlich­en«, sagt Juristin Solenne Lecompte, die für eine Hilfsorgan­isation im »Dschungel« von Calais ein Büro für Rechtshilf­e betreibt. »Während des langwierig­en Verfahrens verlieren wir viele von ihnen aus den Augen. Sie wollen nicht länger warten und versuchen immer wieder die illegale Flucht, mit oder ohne Unterstütz­ung von Schleppern.«

Dabei kommen immer wieder Minderjähr­ige ums Leben. So fiel Mitte September ein 14-jähriger Afghane von einem Lkw und wurde von einem Auto überfahren, dessen Fahrer nicht einmal angehalten hat. Massoud, ein 15-jähriger Afghane, ist bei Dunkerque in einem Kühlanhäng­er erstickt und ein 16-jähriger Sudanese wurde nahe dem Eurotunnel­terminal auf der Straße von einem Auto erfasst und getötet.

Viele Kinder und Jugendlich­e müssen sich im »Dschungel« als Hilfskräft­e für andere Flüchtling­e verdingen, etliche werden zu Kleinkrimi­nalität gezwungen oder sexuell missbrauch­t. Eigentlich sind die Behörden verpflicht­et, Minderjähr­ige, die Anträge auf Asyl und Familienzu­sammenführ­ung gestellt haben, unterzubri­ngen. Doch in und um Calais wurden für sie nur wenige Unterkünft­e geschaffen – 45 in Saint-Omer, 25 in Arras und 75 in Calais. Und die Zeit drängt. Wenn die Flüchtling­e von Calais bis Ende Dezember über Aufnahmehe­ime im Land verteilt werden, wird es für die Minderjähr­igen noch schwierige­r, ihr verbriefte­s Recht auf legale Ausreise geltend zu machen.

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