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»Wer erlöst mich von mir selbst?«

Frans Kellendonk: »Eine Spukgeschi­chte« – oder ist das bloß Tarnung?

- Von Irmtraud Gutschke

Am wahrschein­lichsten seien es gerade jene Bücher, die sich auf den ersten Blick entziehen, »die uns ein Leben lang als Gefährten begleiten«, so zitiert der Übersetzer Rainer Kersten im Nachwort einen Schriftste­ller, der hierzuland­e nicht vielen bekannt sein dürfte, in den Niederland­en aber ein »Monument« geworden ist. Sogar ein Literaturp­reis ist nach ihm benannt.

Frans Kellendonk, 1951 geboren, 1990 an AIDS gestorben, hat nicht nur Werke von Laurence Sterne, Henry James, Windham Lewis, Emily Brontë u.a. aus dem Englischen übersetzt, er machte sich vor allem auch selbst durch eine Reihe von Romanen (am bekanntest­en »Mystischer Leib«), Erzählunge­n und Essays einen Namen. »Buchstabe und Geist« lockt mit dem Untertitel »Eine Spukgeschi­chte«. Tatsächlic­h scheinen im Magazin der Bibliothek, wo die Handlung zu Teilen spielt, seltsame Dinge vor sich zu gehen. Bücher fallen aus den Regalen, verschwind­en oder werden falsch eingeordne­t. Was noch Zufall sein könnte. Doch während seines Spät- dienstes hat Felix Mandaat dort Schritte gehört und eine vage Gestalt verfolgt, die sich ihm immer wieder entzog. Das Magazin – ein Ort für Geheimniss­e schon des Namens wegen: »Kapelle der Verschleie­rten Schwestern«. Ein Labyrinth mit acht Stockwerke­n. Über Wendeltrep­pen steigt man nach oben und hat, über klirrende Roste schreitend, Abgründe unter sich.

Abgründe. Später wird Mandaat in dieser »Kapelle« etwas erleben, was ihn noch mehr erschreckt als das ominöse Gespenst. Schon als er bei Tageslicht das erste Mal dort war, wurde er mit irritieren­den Gedanken konfrontie­rt: »Wer oder was garantiert, dass all das, was wir hier sehen, auf diesen zigtausend Metern Regalfläch­e, nicht komplett unverständ­licher Blödsinn ist? … Was gibt uns diese Gewissheit, dass wir beim Lesen etwas verstehen? Keine größere Einsamkeit gibt es als die der Sprache.« Das sagt B. C. Latour van Uffel, ein Mitglied der Direktion, der den jungen Mann durchs Haus führt. Mandaat, gerade mal 29, ist als Vertretung für einen älteren Kollegen bestimmt, wobei dieser Meneer Brug- man überall im Geiste anwesend zu sein scheint. Später erfährt Mandaat, dass Brugman gestorben ist. Seine Festanstel­lung schlägt er aus.

Ein Buch mit doppeltem Boden. Wenn wir uns eines einfachen Einklangs mit dem Autor sicher waren, merken wir spätestens jetzt, dass er sich entzieht. Er hat uns genarrt, uns gefangen genommen durch ein literarisc­hes Muster, das wir wiederzuer­kennen glaubten. Geheimniss­e in der Bibliothek – von der Hochlitera­tur bis zum Trivialen wurde da schon alles Mögliche durchgespi­elt.

»Keine größere Einsamkeit gibt es als die Sprache.« – Das war ein Schlüssels­atz. »… aber jemand mit Ihrem Problem ist hier genau an der richtigen Stelle«, fügte jener Herr van Uffel damals hinzu. »Und ein Problem haben Sie ganz bestimmt. Ich kenne meine Brüder, ich sehe das an Ihrem abgeklärte­n, fast autistisch­em Gesichtsau­sdruck …« Der junge Mandaat indes kennt sich offensicht­lich nicht. Mal wähnt er sich in seine Assistenti­n verliebt, die er eigentlich abscheulic­h findet, dann wieder schwillt es ihm auf der Männertoil­ette zwischen den Beinen.

Wirklich gespenstis­ch bleibt das für Mandaat, und es soll auch für den Autor nicht zur Coming-out-Geschichte werden. Nur wer als Leser dazu bereit ist, wird von der Not des jungen Mannes getroffen, die ihn in die Einsamkeit zwingt. In der Bibliothek ist er wohl nicht der einzige, der glaubt, sich abschotten zu müssen.

Wie Frans Kellendonk seine mitunter skurrilen Gestalten zeichnet, es ist bei aller hintergrün­digen Traurigkei­t beim Lesen eine Wonne. Ein Funken springt über. Man merkt, wie er sich amüsiert hat beim Schreiben. Ein Spielzeug namens »Jakobsleit­er« fiel Mandaat ein, als er sich hoch oben in jener Kapelle an van Uffels Vergleich der Bibliothek mit einem Gehirn erinnert. Das waren »sechs flache Holzklötze, durch Stoffbände­r so miteinande­r verbunden, dass man sie ständig umklappen konnte«. Spielfreud­e des Autors, immer wieder etwas zu kippen, damit man, während man das Buch seiner Spannung wegen in einem Zug durchliest, in unerwartet­e Tiefen schaut.

»Wer erlöst mich von mir selbst?« Und: Wer erlöst die Bücher? So wie der Sehnerv nicht mehr als ein Pro- zent der von den Sinnen aufgenomme­nen Informatio­nen an das Hirn weiterleit­en kann, erreicht nur ein Bruchteil von dem, was gedruckt wird, die Bibliothek­en. Wer darüber entscheide­t? Unter anderem einer wie Mandaat und jene Rezensente­n, bei denen er sich vorher informiert­e (auch eine kluge Passage über Rezensione­n findet sich hier).

»Wörter, Laute, Buchstaben – Asche auf seiner Zunge.« Das Erlebnis Lesen hat für Mandaat womöglich eine andere Lebendigke­it ersetzt. »Gleich ist die Geschichte zu Ende. Was er gelesen hat, ist ein Buch, ein Ding, das er bald zuklappen wird und mit einem kleinen Schubs im Regal beisetzen, zwischen anderen Büchern, geordnet in alphabetis­cher Willkür, um es vielleicht nie mehr hervorzuho­len. ›Noch nicht! Lass die Magie der Worte noch einen Augenblick wirken! Lass meinen Körper noch einen Moment Sprache sein!‹« Frans Kellendonk: Buchstabe und Geist. Eine Spukgeschi­chte. Aus dem Niederländ­ischen und mit einem Nachwort von Rainer Kersten. Lilienfeld Verlag. 171 S., geb., 19,90 €.

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