Adieu, Dschungel
In Calais begann die Polizei mit der Räumung des illegalen Flüchtlingslagers
Berlin. Er wurde zu einem Symbol der Unfähigkeit Europas, mit der sogenannten Flüchtlingskrise umzugehen, vergleichbar mit den Grenzzäunen in Ceuta oder Melilla. Im sogenannten Dschungel von Calais, einem Slum in einem der reichsten Staaten Europas, harrten bis zu 10 000 Geflüchtete unter unmenschlichen Bedingungen aus – in der Hoffnung, dass ihnen irgendwann die Überfahrt nach Großbritannien gelingt.
Am Montagmorgen begannen 1250 Polizisten zusammen mit den bereits im Lager vorhandenen 2100 Sicherheitskräften mit der Räumung des Camps. Mit Bussen wurden Hunderte Flüchtlinge in Aufnahmezentren in anderen Landesteilen gefahren. 6000 bis 8000 Asylsuchende sollen in den kommenden Tagen in Frankreich verteilt werden, damit die Zelte und Hütten des »Dschungels« abgerissen werden können. Schon am frühen Morgen versammelten sich nahe des Lagers zahlreiche Flüchtlinge vor einem eingezäunten Gelände, das in eine Art improvisierten Busbahnhof umgewandelt worden war. »Bye, bye, Dschungel«, riefen einige Flüchtlinge, als sie sich mit ihrem Gepäck auf den Weg zum Sammelpunkt machten. Dort bildeten sich rasch lange Schlangen. »Es ist besser, jetzt zwei Stunden zu warten als dann zwei Tage«, sagte ein sudanesischer Flüchtling.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein »Dschungel« von Calais aufgelöst wird. 2009 wurde der erste geräumt, es entstanden viele kleine wilde Camps und 2015 ein neuer »Dschungel«. Dessen Auflösung soll sich einige Zeit hinziehen. Doch ein Teil der Geflüchteten will unbedingt in Calais bleiben. Gut möglich also, dass es bald wieder neue kleine »Dschungel« gibt. Denn mit einem grundlegenden Politikwechsel in der Asylpolitik ist die jetzige Räumung nicht verbunden. Weder in Frankreich noch in Europa.
Die Räumung des »Dschungels« von Calais soll unter Ausschluss kritischer Journalisten und »No Border«Gruppen erfolgen. Die Schlepper intensivierten ihre Tätigkeit in den letzten Tagen noch. »Alles verläuft ruhig« und planmäßig. So lautet die Quintessenz von Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve zu der am Montagmorgen begonnenen und seit Längerem geplanten Evakuierung des »Dschungel« genannten MigrantInnencamps in der Nähe von Calais. Gegen 8.45 Uhr verließ ein erster Bus mit Migranten das Lager, um zu einem Aufnahme- und Orientierungszentrum (CAO) in der ostfranzösischen Region Burgund zu fahren.
Rund 170 solcher CAO bestanden bereits, als im Herbst 2015 eine erste Umverteilung von MigrantInnen aus Calais über das gesamte französische Staatsgebiet begonnen hatte – bevor sie vorläufig ins Stocken geriet. Weitere 280 sind zusätzlich eingerichtet worden, wodurch ihre Gesamtzahl nun 450 übersteigt. Doch nicht alle geplanten Einrichtungen dürften rechtzeitig fertig werden. Das liegt auch daran, dass es lokal zum Teil heftige Widerstände gibt. Deswegen und weil die Kapazitäten nicht immer mit den Planungen mithalten, dürfte die über mehrere Wochen hinweg vorgesehene und mehrere Tausend Polizisten umfassende Operation nicht ganz so reibungslos verlaufen, wie Cazeneuve sich das vorstellt. »2000 Migranten weigern sich, aus Calais zu gehen« und werden Widerstand leisten, kündigte Christian Salomé von der Nichtregierungsorganisation (NGO) »Die Herberge für Migranten« am Montag vor Ort an. Sie wollen sich nicht fügen, sich das Vorhaben einer Überfahrt auf die britischen Inseln endgültig aus dem Kopf zu schlagen.
Keinerlei Garantie gibt es dabei für jene MigrantInnen, die aufgrund der Dublin-Vereinbarung in ein anderes EU-Land zurückgeschoben werden können, wie nach Griechenland, Italien oder gar Ungarn. Dies widerfuhr vor einem Jahr Sudanesen, die sich von Calais nach Südwestfrankreich hatten überstellen lassen. So werden sich diese »Dublin-Betroffenen« am ehesten ihrer Umverteilung widersetzen. Oder aber sie lassen sich bereits in einiger Entfernung vom »Dschungel« in kleineren, informel- len Camps in bis zu zehn Kilometern Entfernung nieder.
So sah die Lage im gesamten Raum Calais im Übrigen noch vor zwei Jahren aus. Danach hatte die Staatsmacht den Druck erhöht, um die Betreffenden mittels Vertreibungsmaßnahmen an einem einzelnen Punkt zu konzentrieren, eben dem »Dschun- gel«. Heute ist der Staat indes der Auffassung, das Camp sei zu groß und sichtbar geworden. Für Unsichtbarkeit sorgen sollen daher zum Beispiel jetzt die Kontrollen des Zugangs von Journalisten sowie NGOs. Rund 700 MedienvertreterInnen waren anwesend, als es am Sonntag zu Auseinandersetzungen zwischen Migrantengruppen und Polizeikräften im Camp kam. Zu solchen kam es in jüngster Zeit immer öfter, da auch die sogenannten Schlepper ihre Tätigkeit intensiviert haben, bevor es zum »Torschluss« kommt.
Doch die Staatsmacht möchte ab jetzt nur noch akkreditierte Medienund NGO-VertreterInnen direkt vor Ort in das bisherige Camp lassen, das nach der Räumung abgerissen werden soll. Bei den NGOs und Initiativen geht es dabei vor allem darum, aus ihrer Sicht zu radikale Gruppen – wie die »No borders« – auszugrenzen und fernzuhalten. Institutionell ausgerichtete NGOs, die die Zerschlagung des »Dschungels« begleiteten und von denen elf jüngst sogar einen beschleunigten Abriss »vor der Win- terpause im November« forderten, sind hingegen wohl gelitten.
Um die weniger gut angesehenen Kräfte draußen zu halten, greifen die Behörden auf das Notstandsgesetz zurück. Die Zufahrtsstraßen und -wege zwischen »Dschungel« und Hafengelände wurden auf der Grundlage der derzeit geltenden Bestimmungen zum Ausnahmezustand zum besonderen »Gefahrengebiet« erklärt. Damit können »widerrechtlich Eindringende« strafrechtlich verfolgt werden.
Gegen das Aussieben der vor Ort zugelassenen Medienvertreter protestierten mehrere Journalistengewerkschaften in einem Kommuniqué. Protestiert haben auch Sprachlehrerinnen und Übersetzer, die die Behörden einspannen wollten, um durch ihre Dienste einen reibungslosen Ablauf der geplanten Operation zu gewährleisten. In einer gemeinsamen Erklärung sprachen sich mehrere Gewerkschaften im Bildungssektor dagegen aus und kündigten an, das Personal lasse sich nicht für Dienste als Polizeibüttel instrumentalisieren.
Um die weniger gut angesehenen Kräfte draußen zu halten, greifen die Behörden auch auf das Notstandsgesetz zurück.