Däumchendrehen in der französischen Provinz
7400 Flüchtlinge sollen von Calais aus in 283 Aufnahmelagern im ganzen Land gebracht werden
Die Reaktionen auf die Verlegung der Geflüchteten von Calais in Aufnahmelager sind unterschiedlich. Viele reagieren gelassen. Doch es gab auch einen Brandanschlag. Die zu evakuierenden Flüchtlinge des »Dschungel« von Calais sollen auf 283 Aufnahme- und Orientierungslager in 84 der rund 100 Departements des Landes verteilt werden, wo insgesamt 7400 Plätze bereitstehen. Dort sollen sie, soweit sie das nicht schon in Calais getan haben, einen Asylantrag für Frankreich stellen und das Ergebnis unter menschenwürdigen Bedingungen abwarten können. Bei der Abfahrt in Calais können sie unter zwei Regionen wählen, beteiligt sind aber alle Regionen des Landes außer Korsika und der Pariser Region.
Was sie dort erwartet, wissen die Geflüchteten genau so wenig wie die Hilfsorganisationen oder die Organisatoren der Aktion in Calais. Bedingungen vor Ort und die Stimmungen der Anwohner sind sehr unterschiedlich. In Brevinois in der Bretagne, wo 50 Flüchtlinge aufgenommen werden sollen, fand am Sonntag eine volksfestähnliche »Begrüßungsdemonstration« statt. »Wir wollen alles tun, um diesen vom Schicksal verfolgten Menschen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen«, sagt Yannick Josselin vom Bürgerkomitee, das sich zusätzlich zu den Behörden um die neuen Bewohner des kleinen Orts kümmern will. »Frankreich hat 36 000 Gemeinden. Wenn jede von ihnen eine kleine Anstrengung macht, können viele tausend Flüchtlinge dem Elend entkommen und eine neue Zukunft finden«, meint er.
Dagegen sind in Saint-Bauzille im südfranzösischen Departement Herault der parteilose Bürgermeister Michel Issert und alle Mitglieder des Gemeinderates demonstrativ zurückgetreten. Der Grund: Die Behörden verfügten über ihre Köpfe hinweg die Einquartierung von 87 Migranten in eine ehemalige Gendarmeriekaserne in der 1800 Einwohner zählenden Gemeinde. Dieses Vorgehen entspricht den Vorgaben eines Rundschreibens des Innenministeriums an die Präfekte der Departements. In diesem heißt es, sich bei der Suche nach Aufnahmemöglichkeiten in staatseigenen Gebäuden wie leer stehenden ehemaligen Kasernen, Schulen oder Krankenhäusern nicht damit aufzuhalten, die Kommunalpolitiker zu konsultieren. In Paris weiß man, dass die rechtsbürgerliche Partei der Republikaner, die seit der letzten Wahl die meisten Regionen regiert, zumindest passiven Widerstand, oft aber auch offene Protestaktionen zu organisieren versucht. Doch in den meisten Städten und Gemeinden reagiert die Bevölkerung gelassen. In Garche in der Bretagne, wo sich seit einer früheren Evakuierungsaktion schon 100 Flüchtlinge aus Calais befinden, sollen jetzt noch einmal 50 hinzukommen. Anne-Marie S. gibt hier Französischunterricht und meint: »Über die Sprache hinaus vermitteln wir diesen zumeist sehr aufgeschlossenen und ehrgeizigen jungen Leuten auch Kenntnisse über Geschichte und Kultur ihres neues Gastlandes. Außerdem organisieren wir Sportwettkämpfe und andere Aktivitäten, um sie sinnvoll zu beschäftigen, denn solange noch nicht über ihren Asylantrag entschieden ist, dürfen sie ja nicht arbeiten.«
Ganz anders die Reaktion in Loubeyrat im zentralfranzösischen Departement Puy-du-Dôme. Hier wurde auf das Zentrum, das 30 Flüchtlinge aufnehmen soll, in der Nacht zum Montag ein Brandanschlag verübt. Es muss vorläufig geschlossen bleiben. Mit Stellungnahmen zu der Evakuierungsaktion halten sich rechte wie linke Politiker noch zurück, wohl weil sie zunächst das Ergebnis abwarten wollen. Natacha Bouchart, die republikanische Bürgermeisterin von Calais, ist eher skeptisch. »Ich rechne damit, dass auch von denen, die jetzt abgefahren sind – wie bei früheren solcher Aktionen – viele bald wieder in Calais zurück sein werden. Der Traum von einer geglückten Überfahrt nach Großbritannien ist stärker als der Reiz des Däumchendrehens in der französischen Provinz.«