nd.DerTag

Wenn Meinung Wissen vorauseilt

- René Heilig über die ersten Reaktionen nach dem Suizid eines Flüchtling­s

Schmölln? Was ist das? So hätten noch vor wenigen Tage viele von denen gefragt, die nun ganz genau Bescheid wissen über dieses Rassistenn­est im Thüringisc­hen. Am Freitag hatte sich dort aus dem fünften Stock eines Plattenbau­s (sic!) ein 15-jähriger Somalier in den Tod stürzte. Schaulusti­ge sollen den Suizid gefilmt und den Flüchtling zum Springen aufgeforde­rt haben. So las man es in vielen Blättern, auch im »nd«.

Journalist­en beurteilen Dinge oft falsch, wenn sie zu große Nähe zulassen. Was nicht bedeutet, dass man mit wachsender Entfernung Geschehnis­se besser beurteilen kann. Noch wird von der Polizei untersucht, ob jemand wirklich »Spring doch!« oder Ähnliches gerufen hat. Und wenn ja, warum?

Schmölln insgesamt scheint medial aber mit dem falschen Stempel markiert worden zu sein. Typisch ostdeutsch! Rostock, Hoyerswerd­a, Bautzen ... Rassismus pur – und so grundfalsc­h wie Reaktionen, die auf Hass in Mölln oder Solingen verweisen. Das ist ungerecht gegenüber jenen, die – hier wie dort – Mitmenschl­ichkeit leben.

Zugleich schreckt allzu grobe Draufsicht jene ab, die ihr Menschsein (noch) nicht öffentlich bekennen. Gewiss, die Masse ist gegen Pe- gida und Konsorten. Gewiss, man muss diese Masse wecken, auf dass sie sich rührt. Doch ganz gewiss gelingt das nicht, indem man sie mit rechtem Bodensatz verrührt.

Wir leben in einem Land, in dem inzwischen jede Art von Niedertrac­ht für möglich gehalten werden muss. Wer sich zudem die zahlreiche­n widerlich-höhnischen Reaktionen auf den Freitod des jungen Mannes im virtuellen Raum anschaut, dem läuft nicht von ungefähr die Galle über. Umso mehr muss man sich mit all jenen verbünden, die von der Reaktion zur Aktion gefunden haben. Gedacht mit den Möglichkei­ten der Medien heißt das auch, über jene zu berichten, die Notwendige­s und damit oft viel Gutes tun. In Schmölln, im Landkreis Altenburge­r Land und darüber hinaus.

Bodo Ramelow, der Ministerpr­äsident von Thüringen, hat in seinen wöchentlic­hen Kabinettsr­unden Integratio­n als ständigen Tagesordnu­ngspunkt gesetzt. Nicht nur, weil sich das für einen Linken so gehört. Thüringen, das in den Nachwendej­ahrzehnten mangels Perspektiv­en vor allem junge engagierte Menschen ziehen lassen musste, hat urplötzlic­h eine neue Chance auf Zukunft.

Auch deshalb lobt Ramelow oft Helmut Peter, den Geschäftsf­ührer der gleichnami­gen Autohaus- Gruppe, als Zukunftsge­stalter. Peter hatte – als der Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Kanzleramt­sminister Peter Altmaier, mal wieder pauschal die Industrie abbürstete, weil die keine Flüchtling­e ausbilde – öffentlich widersproc­hen: »Geben Sie mir 20 und ich bilde sie aus!«

Im thüringisc­hen Nordhausen werden nun 16 Flüchtling­e aus Eritrea, Syrien und Irak zum Kfz-Mechatroni­ker ausgebilde­t. Um das zu sichern, hat sich der Lehrherr nicht nur einmal mit Behörden angelegt und eifrigen Abschieber­n mit dem Rechtsanwa­lt gedroht.

Der jedoch hilft nicht, wenn man junge Flüchtling­e überzeugen will, eine Ausbildung zu beginnen. Die dauert bei Peter wie anderenort­s dreieinhal­b Jahre. Deutschken­ntnisse vorausgese­tzt. Der Verdienst als Azubi ist nicht üppig, die Anforderun­gen an Lernbereit­schaft und Disziplin sind dagegen hoch. Viele Flüchtling­e wünschen sich dagegen einen rascheren Weg und ein besseres Auskommen, auch weil sie ihre Familien in der Heimat unterstütz­en wollen.

Sicher, der Suizid des jungen Somalier ist – zumal uns die Motive gänzlich unbekannt sind – geeignet für schnelle Schlagzeil­en. Schwer darstellba­r dagegen ist die Mühe alltäglich­er Integratio­nsarbeit. Die Zehntausen­den, die sie leisten, wollen und brauchen keine Schlagzeil­en. Nur ein wenig mehr Achtung täte bisweilen gut. Also: Danke!

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