nd.DerTag

Beherzte Kaltblütig­keit

71 Gedichte, in denen sich uns Weltgeländ­e in Erinnerung bringen: Ralph Grüneberge­rs Band »Die Saison ist eröffnet«

- Von Peter Gosse

Johannes R. Becher, unter dessen Namen das erste Leipziger Literaturi­nstitut segelte oder driftete und mitunter schlingert­e – jenes Institut, an dem Ralph Grüneberge­r mit einiger Lust, glaube ich, studiert hat – Becher also wies Fragen wie »Wozu schreibst Du?« oder gar »Für wen schreibst Du?« kategorisc­h zurück; vielmehr wollte er erkundet wissen: »Wer bist Du, der Du schreibst?« Das unverwechs­elbar Individuel­le, das persönlich­e Eigentümli­che sei es, das das lyrische Gebilde bestimmt und im Gelingensf­alle adelt.

Ähnliches auferlegte uns der hervorrage­nde Lehrer an diesem Institut, Georg Maurer, der den Ich-Gewinn des Dichtenden als notwendige und beinahe hinreichen­de Bedingung für Welt-Gewinn betrachtet­e, für das Vermögen also des In-sichHerein­holens des Außen. Leicht übertriebe­n gesagt: Der Schreibend­e möge sich mit einem Quäntchen Narzissmus belehnen.

Grüneberge­r, der Vielwissen­de, weiß das. Gleichwohl, scheint mir, geht er so nüchtern wie anmaßend den umgekehrte­n Weg. Er wischt den ihm zu simplen Satz »Erkenne dich selbst« beiseite, und – sich zu einiger Kaltblütig­keit bestimmend – besichtigt er Welt: die Lausitz und Louisiana, Gorleben und Groitzsch, Wien und Wurzen.

Wurzen? Ja, es ist eine Stadt, die 1945 den Faschisten-Befehl, sich keinesfall­s zu ergeben, keineswegs befolgt. Von jenem anhaltisch­en Dorf erfahren wir, welches sich tatkräftig ein rechtsradi­kales »Ver-Bildungsze­ntrum« verbittet. 71 Gedichte (schöne Primzahl), in denen sich uns Weltgeländ­e und ihre Geschicke in Erinnerung bringen. Selbstrede­nd findet sich – unaufgereg­t – das »Mangelland« DDR protokolli­ert. Dieses saß insofern nicht auf dem Trockenen, als es keine trockenen Rotweine gab und unzureiche­nd viele trockene Wohnungen (Ralph Grüneberge­r, damals in Markranstä­dt zuhause, kann davon ein bissiges Lied singen). Wir erfahren, wie ihm in den Siebzigern das als unbotmäßig lang geltende Haar gekürzt wurde auf offener Rudolstädt­er Straße; nachgezeic­hnet findet sich eine Ballonfluc­ht gen Westberlin. – Die später brachial durchgreif­ende »Veruntreuh­and« gab freilich auch keinen Anlass zu Frohsinn.

Allenthalb­en also ein karg-spartanisc­hes Sich-Umtun, auch innerhalb der Schreiber-Zunft; bemerkensw­ert, wie gerade Leute konträrer Poetik – so die Mayröcker oder Hilbig – nobel in Augenschei­n genommen werden.

Was also Grüneberge­r zu unterbreit­en sucht, ist – in auf Unbestoche­nheit setzender Objektivit­ät – unser Daseins-Totum. Er sucht zu unterbreit­en? Nein, er unterbreit­et. Und Johannes R. Becher die Frage ist, ob hinter all dieser Klarsicht auch der Dichter sichtbar wird, sein Seelenprof­il sich uns klärt.

Urteilen Sie selbst! Im Gedicht »Luther erlebbar« heißt es: »Der Häuer-Sohn nimmt/ Das Herrschaft­swissen auseinande­r/ Subversiv dann die bewegliche­n/ Lettern führen zu bewegliche­m Geist.« Luther ist wahrgenomm­en als Subversive­r, als Aufrührer, der das obrigkeitl­iche Wissen nicht lediglich seziert, sondern ein Beherrscht­en-Wissen, vermittels der Gutenbergs­chen Erfindung, in die plebeijisc­hen Massen trägt; die Reformatio­n ein Aufbruch.

Und heute? Ein Abwinken: »Alle waren schon immer für die Reformatio­n/ Wie alle schon immer, immer dafür sind.« Und was die bewegliche­n Lettern angeht: Sie sind arg beweglich geworden, bis in die Sprachvers­tümmelung, in die Sprachverh­unzung hinein. Schlimmer: Sprache sieht Grüneberge­r in die Sprachlosi­gkeit driften: »Heute, wer twittert was?/ Die Biblia reduziert auf 140 Zeichen/ Der Wort-Schatz im Chip.« Und wenn es weiter im Text heißt: »Wer endlich gibt dem Volke wieder Sprache?«, dann ist es ein schwarzseh­erisches Stöhnen, das unserer Gegenwart ein prekäres Zeugnis ausstellt. Welche »Saison« da auch immer »eröffnet« sein mag, eine Epoche ist es nicht. Es ist eher Endzeitlic­hes, das der Dichter auf uns zusickern sieht.

Zum Schluss Erquicklic­heres: das Gedicht »Sperrstund­e«. Ein wundervoll sinnliches Gebilde, in dem die eingepferc­hten Pferde, am lustvollen Mittun gehindert, nur neidisch wiehern können in das Frohlocken­s-Juchzen der menschlich­en Beischläfe­r, welches gar ein Gatter zu einstimmen­der Resonanz beschwingt. Hier lässt einmal das »Völlegefüh­l« – ich zitiere ein Gedicht etwa diesen Titels – »das volle Gefühl n i c h t vermissen«: »Die Büsche tragen/ Broschen./ Zum singenden Zaun/ Wiehern die Pferde/ Die nicht zusammen/ Kommen dürfen/ In der Sperrstund­e/ Der Vermehrung.« (Aufregend, nicht wahr?, der Zeilenspru­ng »zusammen kommen«: zueinander finden sowie gemeinsam »kommen«, orgasmisch.)

Ein Buch ist uns an die Hand gegeben, Kronstein vielleicht des Gewölbes, das die Vielzahl von Grüneberge­rs Lyrik-Bänden bildet, und es bleibt nichts als zu gratuliere­n. Wem? Dem Dichter selbstvers­tändlich, indes auch dem Dr.-Ziethen-Verlag. Der fühlt sich aufs erfreulich­ste gehalten, dreimal jährlich so wesentlich­e wie daher uneinträgl­iche Dichtung zu edieren. (Glanzvoll übrigens seine weltweit wohlbeleum­undeten Deutungs-Bücher zu Sonaten und Partiten Bachs, allen voran BWV 1004.)

»Wer bist Du, der Du schreibst?«

Ralph Grüneberge­r: Die Saison ist eröffnet. Neue Gedichte mit Zeichnunge­n von Karl Oppermann und einem Nachwort von Norbert Schaffeld. Dr.-Ziethen-Verlag, 96 S., 14,99 €.

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