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Eine Stele für die Streikführ­erin

Spezielle Orte sollen in Sachsen künftig an starke Frauen erinnern – wie jetzt in Chemnitz

- Von Hendrik Lasch, Chemnitz

Die Rolle von Frauen in der Geschichte wird oft noch ungenügend gewürdigt. Das Projekt »Frauenorte« soll helfen, dies zu ändern – nun auch in Sachsen. Zunächst wurde Ernestine Minna Simon geehrt.

Das Muster ist bekannt: Die Gewinne der Firma gehen zurück, also soll die Belegschaf­t härter und länger arbeiten. In der Aktienspin­nerei Chemnitz sorgt das im Juni 1883 für dicke Luft. Als den Arbeiterin­nen dann auch noch untersagt wird, in den Pausen das Betriebsge­lände zu verlassen, brennt die Luft: Die 1000 Beschäftig­ten, darunter 300 Frauen, treten in den Streik. In einer Versammlun­g tritt Ernestine Minna Simon als Rednerin auf. Die 37-Jährige wird Anführerin des Arbeitskam­pfes. Sie ist die erste Frau in einer solch heiklen, viel Mut erfordernd­en Position in Deutschlan­d.

Die Geschichte von Ernestine Minna Simon wird jetzt auf einer Stele erzählt. Sie steht seit Dienstag im Zentrum von Chemnitz, nur wenige Schritte entfernt vom Gebäude der Aktienspin­nerei, das heute eine Bibliothek beherbergt, und von einer Straße, die im Jahr 2000 nach der politisch engagierte­n Arbeiterin benannt wurde. Die Stele ist der erste »Frauenort Sachsen«. Diese Orte, von denen bis Jahresende noch zwei weitere entstehen, sollen »starke Frauen der Vergangenh­eit sichtbar und der Gegenwart zugänglich machen«. So steht es in einem Aufruf des Landesfrau­enrates Sachsen, der im Freistaat eine Idee umsetzen will, die in anderen Bundesländ­ern bereits erfolgreic­h ist (siehe Kasten). Wenn das Geld reicht, könnten jährlich drei bis fünf Stelen aufgestell­t oder Tafeln angebracht werden, sagt Andrea Pankau, die Geschäftsf­ührerin des Frauenrate­s.

Bei dem Tempo würden allein die Vorschläge, die auf den Aufruf vom Frühjahr hin eingingen, für Jahre reichen. Es habe über 40 Anregungen ge- geben, erzählt Pankau. Gewürdigt werden könnten demnach bekannte Frauen wie Clara Zetkin, die in Wiederau geborene Sozialisti­n und Frauenrech­tlerin, oder Louise Otto Peters, die in Leipzig den Allgemeine­n Deutschen Frauenvere­in ins Leben rief und deren Geburtstag sich 2019 zum 200. Mal jährt. Genannt wurde freilich auch Agathe Zeis, die heute kaum noch bekannt ist. Ihr Verdienst ist es, die Produktion von Camembert nach französisc­hem Vorbild in Deutschlan­d etabliert zu haben. Die Stele müsste vor dem Fabrikgelä­nde der »Heinrichst­haler Milchwerke« in Radeberg aufgestell­t werden.

Die Entscheidu­ng, ob es tatsächlic­h einmal eine Stele für sie gibt, liegt bei einem sechsköpfi­gen Fachbeirat und erfolgt anhand einer Reihe von Kriterien: Frauen, die geehrt werden, sollen in Sachsen geboren sein oder dort gewirkt haben; sie sollen »herausrage­nde« Leistungen in Politik oder Wirtschaft, Technik, Pädagogik oder Sport erbracht oder sich für die Emanzipati­on von Frauen stark gemacht haben. Markiert werden könnten zudem Orte, an denen vor allem Frauen gewirkt haben – wie der Saal der ersten deutschen Frauenkonf­erenz von 1865 in Leipzig – oder die mit ihrer Verfolgung verbunden sind, wie das Frauengefä­ngnis Hoheneck.

Zunächst wird neben Ernestine Minna Simon noch Gertrud SchubartFi­kentscher geehrt, die in Zwickau geboren wurde und 1948 in Halle erste Professori­n der Rechtswiss­enschaft in Deutschlan­d wurde; außerdem Marie Stritt, die 1855 in Dresden geboren wurde und einen »Rechtsschu­tzverein für Frauen« gründete.

Nach Dresden ging auch Ernestine Minna Simon, nachdem der kurze Streik weitgehend ohne Erfolg blieb und sie in der Aktienspin­nerei nicht weiterarbe­itete. Außer dem Umstand, dass im Jahr des Streiks auch ihre Ehe mit einem Maurer geschieden wurde, ist über ihr weiteres Schicksal nichts bekannt. Selbst ein Bild der ersten Streikführ­erin in Deutschlan­d gibt es nicht.

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