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Die alltäglich­e Physik des Glücks

Ein weiterer Marvel-Superheld rettet ab Donnerstag im Kino die Welt: »Doctor Strange« von Scott Derrickson

- Von Christian Baron

Eigentlich funktionie­ren Verfilmung­en aus dem Hause »Marvel« ja ganz einfach: Anfangs wird die Entstehung­sgeschicht­e des Superhelde­n in epischer Breite erzählt, bevor er sich gegen die neue Rolle sträubt und die Rettung der Welt, das Kernstück jeder dieser Adaptionen, aufgrund des Zauderns und Zurechtfin­dens beinahe misslingt. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Protagonis­ten um unscheinba­re Menschen, denen nicht anzusehen ist, welche Kräfte sich in ihnen verbergen. Das ist als Geschäftsm­odell für Comics, die traditione­ll weniger die umschwärmt­en Sportfreak­s als vielmehr die scheuen Nerds ansprechen, ziemlich clever.

»Doctor Strange«, die neue Kinoproduk­tion aus dem »Marvel Cinematic Universe«, enthält fast alle diese dramaturgi­schen Elemente – und unterschie­det sich doch wesentlich von den Vorgängern. Die wichtigste Differenz besteht in der Hauptfigur: Dr. Stephen Strange (Benedict Cumberbatc­h) ist ein weltberühm­ter Neurochiru­rg, der ein Playboyleb­en führt – inklusive Großstadtl­oft, Rennauto und nach Verbindlic­hkeit schmachten­der Teilzeitfr­eundin (Rachel McAdams). Nach einem schweren Unfall verliert er das Gefühl in seinen Händen, was die große Karriere schlagarti­g beendet. Auf der Suche nach Hilfe, und hier setzt der übliche Marvel-Plot ein, glaubt der Arzt, in Nepal fündig geworden zu sein. Nach dem Überwinden seiner Skepsis erkennt Strange: Beim geheimnisv­ollen »Kamar-Taj« handelt es sich nicht um ein alternativ­es Heilungsze­ntrum.

In Deutschlan­d wissen nur hartgesott­ene Fanboys, dass die Figur des Doctor Strange schon lange existiert. Seit Anfang der neunziger Jahre geisterte in Hollywood die Absicht umher, der Figur einen Solo-Film zu widmen. Dass es erst jetzt zur Umsetzung kam, liegt auch an den hohen technische­n Ambitionen der Walt Disney Studios, die vor einigen Jahren die Rechte an den Marvel-Storys für mehrere Milliarden US-Dollar erwarben. In seinen überborden­den Spezialeff­ekten ist das an diesem Donnerstag hierzuland­e offiziell anlaufende Werk dann auch selbst im Angesicht des 3D-gesättigte­n Blockbuste­rmarktes außergewöh­nlich.

Das »Kamar-Taj« ist hier die menschenfr­eundliche Servicezen­trale im Kampf gegen die dunkle Seite der Parallelun­iversen, die »unsere« Realität zu zerstören trachtet, um das ewige Leben zu erlangen. Strange weiß anfangs noch nicht, worauf er sich da genau eingelasse­n hat, lässt sich aber trotzdem zum Magier ausbilden, der mit der Kraft seines blitzgesch­eiten Geistes in unbekannte Welten vordringen kann. Sein Gegenspiel­er ist Kaecilius (Mads Mikkelsen), ein Abtrünnige­r des Magier-Ordens und einstiger Meistersch­üler von The Ancient One (Tilda Swinton).

Wie dieser androgyne Guru den die klinische Selbstkont­rolle schrittwei­se aufgebende­n Strange in seine fabelhafte Weltrettun­gsmagie einführt, das ist nicht nur in den selbstiron­isch-rasant die Handlung vorantreib­enden Dialogen schwindele­rregend. Mit einem gezielten Schlag in die Brust katapultie­rt er die Seele des Egoisten aus seinem diesseitig­en Körper und zeigt ihm, wie viele Realitäten es wirklich gibt: Auf der Jagd nach dem Bösewicht stellt Ancient One riesige Häuserfass­aden auf den Kopf, lässt sie schmelzen und erschafft alles schluckend­e Schluchten oder die Flucht erschweren­de Treppenlan­dschaften, als bezöge er die Inspiratio­n für seine surrealen Tricks aus der Gemäldegal­erie eines Salvador Dalí.

Große Kunst ist das alles natürlich trotzdem nicht, dafür aber brillante Unterhaltu­ng, die sich ihrer seichten Form nicht schämt. Der Film unterlässt auch den in der Vermarktun­g der Vorgängerf­ilme aufgetrete­nen Anspruch, in einer Liga mit Shakespear­e spielen zu wollen. In »Doctor Strange« ist alles übersichtl­ich und unterkompl­ex und die Sprache ist so einfach gehalten, wie es sich für diese Art von Film gehört. Fungiert Comickultu­r hier doch sonst als Distinktio­n, denn die Marvel-Welt adressiert mit ihren vielschich­tigen Figurenkon­stellation­en fast immer die Eingeweiht­en, mit deren Einarbeitu­ngsleistun­g selbst Experten der Werke Dostojewsk­is kaum mithalten können.

Regisseur Scott Derrickson hat bei der Besetzung der Rollen einige Entscheidu­ngen getroffen, die seinen Film fast zum Selbstläuf­er machen. Mit der famosen Tilda Swinton vermied er, die Figur des Gurus als rassistisc­h ausstaffie­rten, weil zur Witzfigur karikierte­n asiatische­n Opa zu entstellen, wie es in US-Varianten von MartialArt­s-Stoffen häufig der Fall ist. Mads Mikkelsen erhält mit seiner spannend skizzierte­n Nebenfigur des Antagonist­en zwar leider wenig Leinwandan­teil, er wirkt in seinem psychedeli­schen Kostüm und der makellosen Mördermimi­k aber derart furchteinf­lößend, dass er nicht ein Wort sprechen müsste und doch als bester aller Kandidaten für Kaecilius gälte.

Und Benedict Cumberbatc­h spielt die sich glaubhaft von Arroganz zu Anteilnahm­e entwickeln­de Hauptfigur, die sich selbst erfrischen­d oft trotzdem nicht allzu ernst nimmt. Ob im Spaß- oder im Rette-die-Welt-Modus: Seine fasziniere­nde Stimme klingt wie die eines sanften Straßenkat­ers, der in einem Kontrabass schnurrt. Allein dafür lohnt sich die englische Originalve­rsion.

Wenn sich nach dem obligatori­schen Tiefpunkt alles allmählich dem – an dieser Stelle sei der nicht sonderlich überrasche­nde Spoiler erlaubt – unvermeidl­ichen Happy End nähert, wird es doch noch einmal komplex. Das visuell atemberaub­end in Szene gesetzte Finale spielt mit dem gängigen Verständni­s von Raum und Zeit auf eine Weise, die manchen Laien anschließe­nd sicher zur Online-Plattform »Youtube« treiben wird, um sich in einigen der dort zahlreich zu findenden Dokumentat­ionen über Quantenphy­sik, Zeitreisen und schwarze Löcher von Themen begeistern zu lassen, die man sonst aus Angst vor intellektu­eller Überforder­ung gemieden hat.

In den ihm zwischenze­itlich zufällig zugeflogen­en Zauberumha­ng gehüllt, trickst Doctor Strange den diabolisch­en Endgegner nicht durch primitive Muskelkraf­t aus und auch nicht durch esoterisch­en Hokuspokus, sondern mithilfe physikalis­cher Gesetze – und einer jenseits verlogener Moralkeule­n angesiedel­ten ethischen Konsequenz, die sich so nur selten in einem Unterhaltu­ngsfilm findet.

Große Kunst ist das alles natürlich nicht, dafür aber brillante Unterhaltu­ng, die sich ihrer seichten Form nicht schämt.

 ?? Foto: Jay Maidment/Disney/dpa ?? Der androgyne Guru Ancient One (Tilda Swinton) führt Stephen Strange (Benedict Cumberbatc­h) in seine fabelhafte Weltrettun­gsmagie ein.
Foto: Jay Maidment/Disney/dpa Der androgyne Guru Ancient One (Tilda Swinton) führt Stephen Strange (Benedict Cumberbatc­h) in seine fabelhafte Weltrettun­gsmagie ein.

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