Die unbestrittene Hauptrolle spielte die Staatskapelle. Daniel Barenboim treibt das Orchester von Klangeruption zu Klangeruption.
Patrice Chéreau starb 2013, nachdem er die Proben für »Elektra« an der Berliner Staatsoper bereits aufgenommen und die fertige Produktion dann beim Festival von Aix en Provence gezeigt hatte. Nun ist diese legendäre Inszenierung an die Staatsoper zurückgekommen. Die Premiere war dem großen Künstler Chéreau ausdrücklich gewidmet. Protokoll im Theater hat man nicht gern, aber diese Huldigung war eine Ausnahme und ganz besonders beglaubigt durch die Besetzung des »Alten Dieners« durch Donald McIntyre – den Wotan aus Chéreaus Bayreuther »Jahrhundertring«. Weitere verdienstvolle Altstars in dieser Produktion: Franz Mazura, Roberta Alexander, Cheryl Studer.
Das war es aber auch mit der Sentimentalität. Wenn das wild gezackte Hauptmotiv der Oper am Beginn starr wie ein Felsblock hernierderkracht, hat man das tote Leben im Palast von Mykene schon begriffen. Umschlossen von den riesigen Mauern auf Richard Peduzzis Bühne leben drei Frauen, die Königin Klytämnestra und ihre Töchter Elektra und Chrysothemis. Männer sind Nebenfiguren, Aegist, der Liebhaber der Königin ebenso wie ihr von den Schwestern herbeigesehnter Sohn Orest.
Alles läuft hier ab wie immer seit 20 Jahren. Der düstere Innenhof wird gefegt, die Königin wird auf jedem Gang durch unsichtbare Tore, Flure, Treppenhäuser begleitet. Chrysothemis eilt ohne Ruhe von Zimmer zu Zimmer, Elektra hockt wie eine schmuddelige Bettlerin irgendwo herum. Überflüssig eigentlich die Frage der Mägde, ob Elektra wohl auch heute kommen werde, ihren toten Vater anzurufen. Sie kommt, sie hält wie jeden Tag zur bestimmten Stunde Zwiesprache mit Agamemnon, der bei seiner Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg von seiner Ehefrau und Aegisth ermordet wurde. Elektra wartet auf die Rache und sie wartet auf den Bruder Orest, der die Tat ausführen muss. Als Kind aus dem Haus gegeben, ist er jetzt erwachsen und wird zurückkommen. Alle wissen das, und Nervosität liegt über dem verbunkerten Palast. Schließlich kommt Orest, ermordet die Mutter und verschwindet wieder, kaum bemerkt.
Chéreau ging es in seiner Inszenierung um das Seelenleid der drei Frauen. Hofmannsthal und Strauss gaben diesen Schwerpunkt vor; in drei dramatischen Begegnungen erklären sich Klytämnestra, Chrysothemis und Elektra. Die Königin schläft nicht mehr, leidet Gewissensqualen, schlachtet vergeblich Opfertier um Opfertier und findet doch keine Ruhe. Die kluge Elektra soll ihr raten. Chéreau führt das Zusammentreffen von Mutter und vor Hass berstender Tochter bis in einen Moment der Zärtlichkeit und innigen Umarmung, bis es ein Erwürgen wird und Elektra ihre Morddrohung herausschreit. Chrysothemis treibt die Unruhe ihres jungen Körpers um, sie will Zärtlichkeit, Sex, Kinder bekommen. Elektra nutzt diesen Hunger, schmeichelt der Schwester, streichelt ihren Körper; legt sich gar auf sie und gewinnt sie doch nicht für ihren Racheplan. Chrysothemis wird von ihr verflucht.
Elektra hat längst alles Geschlechtliche abgetan, sie ist von der Rache-Idee so besessen, dass sie nicht einmal ihren heimgekommenen Bruder erkennt. Hofmannsthal und Strauss mischten Elektras Vater-Verehrung eine erotische Komponente bei – zur Zeit der entstehenden Psychoanalyse eine ebenso unwiderstehliche wie einleuchtende und für das Publikum hoch emotionale Zutat. Auch diese Über-Sehnsucht nach dem verlorenen Agamemnon lässt Chéreau seine Hauptfigur sehr körperlich spielen.
Dazu war eine Sänger-Darstellerin wie Evelyn Herlitzius der Glücks- fall. Herlitzius verausgabt sich vollständig, wirft sich physisch ganz in ihre Rolle hinein. Trotz der ungeheuren Energie, die sie von Anfang bis Ende in den Gesangspart legt, findet sie immer wieder Töne und Ges- ten, die von großer Zärtlichkeit, von Scheu und Liebesbedürfnis sprechen. Evelyn Herlitzius, schlank und zart von Gestalt, ist eine Ideal-Elektra. Kaum weniger leidenschaftlich und stimmlich dramatisch Adrianne Pieczonka als Chrysothemis. Oft wird diese Figur lyrisch-lieblich aufgefasst, Pieczonka verleiht ihr echtes Gegengewicht zu Elektra. Waltraut Meier schließlich, wenig königlich in ihrer Unsicherheit und Angst, als Klytämnestra. Sie schwadroniert von Bräuchen und Opfertieren, beklagt sich über ihre Mägde; wenig königlich, eher mitleiderregend. Meier singt und spielt das sehr zurückgenommen.
Trotz der grandiosen Frauen, trotz des auch überzeugenden Michael Volle als Orest: Die unbestrittene Hauptrolle spielte die Staatskapelle. Daniel Barenboim treibt das Orchester von Klangeruption zu Klangeruption, die Emotionen brennen, nichts ist lieblich, keine Kontur auch nur andeutungsweise abgerundet. Ungemein energetisch die Blechbläser, markanter, schärfer, einprägsamer sind sie kaum vorstellbar. Selbst das Liebesgedenken Elektras an Agamemnon ist so abgrundtief, dass man auch nicht dem kleinsten lyrischen Bogen trauen mag. Barenboim verlangt den Musikern ein äußerstes an Schonungslosigkeit ab. Genau das wurde ihm vom Publikum begeistert gedankt. Nächste Vorstellung am 26.10.