Abwandern kommt nicht infrage
In Brasilien setzen Kleinbauern verstärkt auf Bioanbau, um der Landflucht entgegenzuwirken
Die brasilianische Rechtsregierung hat das Ministerium für Landwirtschaftliche Entwicklung abgeschafft, das kleine Agrarbetriebe und Bioproduktion unterstützte. Aufgeben ist jedoch keine Option. Mit einem gezielten Hieb trennt Maycon Reck das Bananenbüschel von der Staude. Dann zerhackt er den Rest des Scheinstammes und der großen Blätter. Bananenstauden tragen nur einmal im Leben, dann sterben sie ab. Maycon verteilt die organischen Reste auf dem Boden und zeigt auf die kleinen Schösslinge am Fuß der Staude, aus denen bald eine neue Generation Bananen wachsen wird.
»Noch sind die Früchte grün, aber schon in wenigen Tagen sind sie reif und können gegessen werden«, sagt der junge Landwirt. Er ist stolz auf den biologischen Anbau: »Keine Gifte, kein chemischer Dünger, kein Export von halb reifen Nahrungsmitteln!« Alles, was seine Familie auf den knapp zehn Hektar Land herstellt, wird zu Haus oder in der nahen Umgebung konsumiert.
Maycon ist gerade mal 19 Jahre alt. Wie sein älterer Bruder arbeitet er begeistert auf dem Landgut mit. »Abwandern kommt für mich nicht infrage«, sagt er und ist damit eine Ausnahme in der Landbevölkerung Brasiliens. Das Leben auf dem Land gilt als Plackerei, das wenig Einkommen bringt und weniger Perspektiven als in den Städten bietet. Landflucht ist ein weit verbreitetes Phänomen.
Das ist auch im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná nicht anders. Doch für Maycon hat das Dasein als Bauer einen besonderen Anreiz: Seitdem sein Vater Waldir den Hof in der Nähe der Kleinstadt Cruzeiro do Iguaçu auf biologischen Anbau umgestellt hat, ist der Ackerbau für die Familie zu einer Art Experimentierwiese geworden. »Obwohl Vater skeptisch ist, lassen wir die bloße organische Landwirtschaft langsam hinter uns und setzen zunehmend auf ganzheitliche Konzepte, auf die Agrarökologie.« Maycon erklärt: Zunehmend soll auf alle Inputs wie Dünger und Samen verzichtet werden. Bei der Agrarökologie würden die Nutzpflanzen schlicht wegen des natürlichen Gleichgewichts wachsen.
Maycon hält bei der Bananenernte inne und zeigt, wie so ein Kreislauf funktioniert. Die geschlagenen Stauden triefen vor Flüssigkeit, die sie peu à peu an den Boden abgeben. Daran laben sich wochenlang die frisch gepflanzten Wassermelonen, die mehr Wasser brauchen, als der geringe Niederschlag dieser Jahreszeit bringt. Zugleich wirken die zersetzten Staudenreste als Langzeitdünger. Vor der Ernte dienten die Stauden als Schattenspender, beispielsweise für kleine Zitrusbäume. Ohne Zusätze von außen werde so ein Maximum an Biodiversität bewahrt, erklärt Maycon enthusiastisch. »Das Geheimnis der Agrarökologie ist, dass du die Pflanzen so wachsen lässt, wie sie es von Natur aus mögen.«
Waldir Reck hört seinem Sohn geduldig zu, wohlwollend, aber noch nicht ganz überzeugt. Dabei ist er selbst ein Pionier der ökologischen Landwirtschaft. In jungen Jahren vergiftete er sich an den Pestiziden, mit denen er seine Pflanzungen besprühte. »Es war eine schreckliche Erfahrung, zuerst dachte ich, ich würde nie wieder gesund werden«, erinnert sich Waldir. Ein Arzt verbot ihm den Kontakt mit Chemikalien. Er suchte Rat bei der Organisation »Assesoar«, die seit den 60er Jahren verarmte Bauern der familiären Landwirtschaft unterstützt. »Es war der Beginn eines gesünderen Lebens für meine Familie.«
Doch lohnt es sich auch finanziell, biologisch anzubauen? In Brasilien ist »Bio« noch längst nicht in Mode, außer in den eher wohlhabenden Stadtvierteln der Metropolen. Richtig großen Umsatz macht der größte Flächenstaat Lateinamerikas mit Monokulturen und genetisch verändertem Saatgut. Soja und Mais, die meist zu Tierfutter verarbeitet werden, gehören zu den wichtigsten Exportgütern. Bioprodukte sind meist teurer und haben einen kleinen Markt, da die meisten Käufer und Käuferinnen als erstes auf den Preis achten müssen.
Waldir zitiert den früheren Präsidenten Luiz Inácio »Lula« da Silva, der einst sagte, Millionen Arme seien im vergangenen Jahrzehnt zu Mittelschichtlern geworden. »Mein Einkommen reicht dazu nicht, auch heute nicht«, resümiert der weißhaarige Landwirt mit überlegter Stimme. »Aber die Qualität unserer Lebensmittel ... – so gut essen weder die Mittelklasse noch die ganz Reichen!« Die Vielfalt an Früchten und Gemüse sei enorm, alles organisch angebaut. »Unser Luxus ist, dass wir uns wohlfühlen und gesund sind.«
Die Familie Reck gilt unter den Nachbarn als exotisch. Nicht, weil sie Nachfahren von deutschen Migranten sind, die zu Tausenden rund um den Ersten Weltkrieg nach Brasilien einwanderten. Sondern weil sie auf Chemie in der Landwirtschaft verzichtet, was die meisten für »verrückt« halten. Dabei ist biologischer Anbau just der Ausweg aus einem Agrarmodell, das weder nachhaltig ist noch den Menschen auf dem Land ihre Existenz sichert.
Das vom Staat mit Milliardensubventionen geförderte Agrobusiness treibt die Landkonzentration und damit auch die Landflucht voran. Während die Böden durch Monokultur und den ständigen Einsatz von Pestiziden immer weiter ausgelaugt werden, kommen Kleinbauern unter die Räder. Trotz diverser Programme unter den Regierungen der Arbeiterpartei PT (2003 – 2016) zur Förderung familiärer Landwirtschaft kommt eine Verbesserung der Le- bensqualität für die verarmte Mehrheit auf dem Land nur schleppend voran.
Es sind vor allem soziale Bewegungen wie die Landlosen vom MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) oder Nichtregierungsorganisationen (NRO), die Alternativen für die familiäre Landwirtschaft aufzeigen. Eine dieser NRO ist Capa (Centro de Apoio e Promoção da Agroecologia), das anders
Jhony Luchmann, Capa
als Assesoar nicht der katholischen, sondern der lutherischen Kirche nahe steht. Als die Organisation in den 70er Jahren in Südbrasilien ihre Arbeit aufnahm, ging es zuerst darum, deutschstämmige Bauern zu unterstützen, damit sie nicht dem Ruf der Regierung zur Besiedlung entfernter Landstriche im Westen Brasiliens folgen. »Wir waren jedoch immer ein ökumenisches Projekt, das sich genauso an Brasilianer richtete wie an die Nachfahren deutscher Siedler«, betont Jhony Luchmann, Koordinator von Capa in der Kleinstadt Verê im Bundesstaat Paraná.
Zielgruppe sind Kleinbauern, die im Spannungsfeld von Großgrundbesitz und giftiger Agrarwirtschaft ihre Perspektive verloren haben. Ihr Einkommen schrumpfte und sie waren nicht einmal mehr in der Lage, genügend für ihre Subsistenz zu produzieren. Erschreckendstes Beispiel war der Tabakanbau: Die Böden wurden aufgrund der Monokultur immer unfruchtbarer, die eingesetzten Gifte machten den Menschen zu schaffen und der sinkende Marktpreis verschärfte die Armut. »Deswegen kann eine Förderung von familiärer Landwirtschaft nur erfolgreich sein, wenn sie auf einen Übergang zu organischem Anbau hinausläuft«, argumentiert Jhony. Es sei ein langwieriger Prozess, denn bis zur Entgiftung der Böden vergehen viele Jahre. Einige Bauern geben nach kurzer Zeit wieder auf, da sie in der Umstellung auf Bio keine finanziellen Perspektiven sehen. Capa-Koordinator Jhony: »Uns geht es um Ernährungssouveränität, denn es ist wichtig, gut und gesund zu essen und die Abhängigkeit von belasteten Produkten der Lebensmittelindustrie zu verringern.«
Capa bietet Hunderten Landwirten technische Beratung bei der Produktion und hilft beim Vertrieb der Produkte. Zum Konzept gehört die Gründung von Kooperativen, um gemeinsam einen besseren Marktzugang zu haben. Neben den wenigen Öko-Märkten verkaufen die Bio-Bauern inzwischen auch in lokalen Supermärkten. Das meiste setzen die Capa-Bauern jedoch bei staatlichen Programmen ab, zum Beispiel beim Schulspeisungsprogramm PNAE.
Im Lauf der Jahre hat Capa erkannt, dass es nicht ausreicht, nur die kleinbäuerlichen Betriebe zu fördern. »Aufgrund der harten Arbeit und ihrer geringen Wertschätzung hält die Landflucht an. Treibende Kraft dabei sind Jugendliche und Frauen, die angesichts der patriarchalen Familienstrukturen keine Perspektive haben«, erklärt Ingrid Giesel, Koordinatorin von Capa in der Stadt Erexim. Die NRO hat ihre Beratungsarbeit auf die ganze Familie ausgeweitet, und die Schaffung von Agrarschulen unterstützt, damit auch die Kinder einbezogen werden. Das Ziel ist klar, sagt Ingrid: »Wenn wir die Überalterung und Vermännlichung auf dem Land nicht aufhalten, wird die Landkonzentration weiter zunehmen, während die Migranten in städtischen Armenvierteln einem ungewissen Schicksal entgegengehen.«
Das Agrarprojekt Capa wird sich demnächst auch in Deutschland vorstellen. Es ist das zentrale Projekt der 58. Spendenaktion der Hilfsorganisation Brot für die Welt, die am 1. Advent in Eisenach mit einem Gottesdienst eröffnet wird. Eine CapaAktivistin wird dabei sein und den Sinn dieser agroökologischen Initiative vorstellen. Vertreter der Diakonie Mitteldeutschland waren bereits im September bei Capa in Paraná zu Besuch. »Wir haben gesehen, dass Themen wie Gerechtigkeit und gesunde Ernährung in Brasilien ähnlich wichtig sind wie bei uns«, resümierte Oberkirchenrat Eberhard Grüneberg. Eine klare Botschaft nahm er mit nach Hause: »Die Kirche stößt auf viel Akzeptanz, wenn sie sozial engagiert ist.«
»Uns geht es um Ernährungssouveränität, denn es ist wichtig, gut und gesund zu essen und die Abhängigkeit von belasteten Produkten der Lebensmittelindustrie zu verringern.«